Moisej Beniaminowitsch Temkin

„Täglich betraten SS-Leute das Lager und machten sich einen Spaß daraus, zwischen die halbverhungerten Kriegsgefangenen Brotstücke und Zwieback zu werfen und dann zu sehen, wie sich die Gefangenen auf dieses Essen stürzten.“

  • 10. Oktober 1917 geboren in Beschenkowitschi (heute: Belarus)

  • Ausbildung an einer Fachschule für Straßenbau

  • 13. Oktober 1938 Einberufung in die Rote Armee, Unterleutnant

  • 2. Juli 1941 Gefangennahme bei Mitau (heute: Lettland)

  • 4. August 1941 Oflag XIII D Hammelburg, Registrierung unter falschem Namen

  • 24. November 1941 „Aussonderung“ und Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft, Übergabe an das Einsatzkommando Nürnberg

  • Transport ins KZ Dachau, beim SS-Schießplatz Hebertshausen zur Zwangsarbeit selektiert

  • 22. Januar 1942 Transport ins KZ Mauthausen-Gusen, Registrierung unter falschem Namen wieder als Kriegsgefangener

  • 11. Februar 1942 Ermordung seines Vaters zusammen mit anderen Jüdinnen und Juden in der Heimatstadt

  • 25. August 1942 Neuregistrierung als Politischer Häftling

  • 9. November 1942 Überstellung ins KZ Dachau, Zwangsarbeit in den Zeppelinwerken (Außenlager Friedrichshafen)

  • 30. September 1944 Überstellung ins KZ Buchenwald, dann Mittelbau-Dora

  • April 1945 Evakuierungstransport ins KZ Bergen-Belsen

  • 15. April 1945 Befreiung durch britische Truppen

  • Filtrationslager und Rückkehr in die Sowjetunion, lebt und arbeitet in Pjatigorsk und Charkow

  • 11. April 1947 heiratet, zwei Söhne

  • 1970er Jahre Verfassen des Erinnerungsberichts

  • 1993 Auswanderung nach Israel

  • 24. Oktober 2006 Tod

Lebensstationen

Aufwachsen in einer jiddischsprachigen Familie

Moisej Beniaminowitsch Temkin wird am 10. Oktober 1917 in der Kleinstadt Beschenkowitschi geboren. Das liegt in der Nähe von Witebsk im heutigen Belarus. Die Hälfte der Einwohner ist jüdisch, auch seine Familie. Der Vater arbeitet als Schuster. Die Eltern sprechen mit ihren vier Kindern Jiddisch, eine alte, vor allem in Osteuropa sehr verbreitete, jüdische Sprache. Sie ist stark mit dem Deutschen verwandt und wird Moisej Temkin später helfen, seine Peiniger in Deutschland zu verstehen. Er ist das zweitjüngste Kind und der einzige Junge. Als er 16 Jahre alt ist, stirbt seine Mutter. Irgendwann in dieser Zeit ändern alle Familienmitglieder ihre Namen und tarnen so ihre jüdische Identität – vermutlich, weil sie antisemitischen Anfeindungen entgehen wollen. Moisej wird zu Michail, genannt Mischa. Der Vatersnamen heißt nun „Weniaminowitsch“.
Nach der Schule macht Moisej eine Ausbildung zum Straßenbauingenieur. 1938 wird er zur Armee eingezogen. Er kommt zu den Pioniertruppen und erreicht den untersten Offiziersgrad: Unterleutnant.

Moisej (Michail) Beniaminowitsch Temkin als Soldat um 1940 © Privatbesitz Weniamin und Alexandr Temkin, Israel/USA

Schon wenige Tage nach Kriegsbeginn, am 2. Juli 1941, gerät Moisej Temkin bei Mitau (heute Jelgava in Lettland) in Kriegsgefangenschaft. Er wird ins Deutsche Reich gebracht. Seine erste von vielen Stationen ist das Oflag (Offizierslager) Hammelburg in Bayern, wo er am 4. August registriert wird. Er gibt einen falschen Namen an, um seine jüdische Herkunft zu verbergen, und nennt sich Michail Petrowitsch Mirontschik.

„Ausgesondert“

Im Lager suchen Gestapo-Beamte der Leitstelle Nürnberg-Fürth gezielt nach Politischen Kommissaren und Juden, sie sollen ermordet werden. Dafür werden unter den Kriegsgefangenen auch Spitzel angeworben, die sich umhören und „Verdächtige“ verraten sollen. Moisej Temkin wird gemeldet und am 24. November 1941 offiziell aus der Kriegsgefangenschaft entlassen. Das Einsatzkommando der Gestapo bringt ihn ins KZ Dachau, von dort werden er und andere zur Exekution Bestimmte zum nahe gelegenen Schießplatz Heberthausen gebracht.
Dort ermordet die SS zwischen Oktober 1941 und Sommer 1942 etwa 4.000 sowjetische Kriegsgefangene. Moisej Temkin ist, soweit bekannt, der einzige Überlebende, der davon berichten kann – er hat offenbar einfach Glück und wird verwechselt: Kurz zuvor hat es die Anweisung gegeben, arbeitsfähige nicht-jüdische Rotarmisten nicht sofort zu töten, sondern erst zur Zwangsarbeit einzusetzen.

Eingangstor zum Schießplatz Hebertshausen, Aufnahme vom 30. April 1945 © KZ-Gedenkstätte Dachau

Temkin beschreibt den Moment, wo er und seine Kameraden sich nackt in Fünferreihen aufstellen müssen, in seinen Erinnerungen, die unter dem Titel „Am Rande des Lebens“ 2017 veröffentlicht wurden:

Ich befand mich ungefähr in der Mitte der Gruppe und wartete, bis ich an der Reihe war. Ich hatte immer versucht, mich in die Mitte zu stellen, um Zeit zum Überlegen zu gewinnen. Dass hier eine Erschießung stattfand, war eindeutig. Mein Hirn arbeitete auf Hochtouren. […] Als ich an der Reihe war, sollte ich mich herumdrehen, man schrieb etwas in die Liste und schickte mich zur Mauer. Ich stand dort nackt, zitterte vor Kälte und Angst, schaute mich um und dachte angestrengt nach, während die SS-Leute auf den Erdwällen nach oben zeigten und sagten: „In den Himmel!“ Danach stellten sich noch einige Menschen neben mich, und ein Gestapomann sagte: „Genug!“ Allen, die vor der Mauer standen, wurde befohlen, die Kleiderhaufen auf dem Hof zu sammeln und auf einen LKW zu werfen, den wir anschließend auch selbst bestiegen.

Vermutlich ist Temkin versehentlich einer Gruppe von Russen zugeordnet worden, denn einen jüdischen Gefangenen hätte man sicher zu dieser Zeit nicht bewusst gehen lassen. Außerdem hat es diesen Ablauf einer Selektion zur Zwangsarbeit – buchstäblich in letzter Minute – nur in einer kurzen Phase des Übergangs so gegeben. Kurz danach wurden arbeitsfähige Kriegsgefangene schon im KZ Dachau von den Todeskandidaten getrennt.

Propagandaaufnahme der SS von Appell stehenden Häftlingen im KZ Dachau, o.J. © KZ-Gedenkstätte Dachau

Von Dachau nach Mauthausen

Fast 200 Männer sind im Oflag Hammelburg „ausgesondert“ worden. Jetzt sind es noch 23, die vom Schießplatz zurück ins KZ Dachau gebracht werden. Moisej Temkin hat nicht verstanden, dass er für einen Russen gehalten wurde und nur deshalb noch lebt. Daher meldet er sich, als routinemäßig nach Juden gefragt wird. Er ist der Einzige, und da erst ihm wird klar, dass er einen Fehler gemacht hat. Der Fragesteller, ein SS-Mann, ist irritiert, unterbricht aber zunächst das nun folgende Aufnahmeritual der Gefangenen nicht: Sie müssen in die Desinfektion, bekommen die gestreifte Häftlingskleidung, werden einem Block zugewiesen und erhalten etwas zu Essen.
Als ihn abends der „Blockälteste“ auf seine Identität anspricht, leugnet er zunächst, jüdisch zu sein, und gibt schließlich an, Halbjude zu sein. Damit wird er, zusammen mit einem Politischen Kommissar, der eigentlich auch längst hätte tot sein sollen, zu einer kleinen Berühmtheit:

„Wir waren wie seltene Tiere in einem Zoo. Man ließ mich auf einen Hocker steigen und befahl mir, gerade zu schauen, den Kopf nach rechts, dann nach links zu drehen, das Hemd aufzumachen und die Brust zu zeigen. Die SS-Leute betrachteten mich sehr genau und nickten einander zu: ‚Ja, ja, es ist ein Halbjude.'“

Moisej Beniaminowitsch Temkin: Am Rande des Lebens. Erinnerungen eines Häftlings der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Hg. von Reinhard Otto, Berlin: Metropol 2017, S. 72

In seinen Erinnerungen schildert er weiter, dass sich der „Blockälteste“ ebenso wie der „Stubenälteste“ für ihn einsetzten. Nur deshalb überlebt er und wird genauso behandelt wie die anderen Kriegsgefangenen, hauptsächlich Offiziere der Roten Armee. Sie werden in einem speziellen, streng isolierten Lagerbereich untergebracht, der für 4.000 Mann ausgelegt ist. Alle paar Wochen kommt eine neue, kleine Gruppe von Männern, die ebenfalls kurz vor der Ermordung zur Zwangsarbeit ausgesucht worden ist. Insgesamt wächst die Belegung ihres Blocks aber nur auf 123 Mann – sie alle haben die Ermordung der Mehrheit ihrer Kameraden erleben müssen.

Am 22. Januar 1942 wird diese Gruppe mit einem Personenzug ins KZ Mauthausen (heute Österreich) transportiert, mit Handschellen aneinandergefesselt. Dort gibt Temkin wieder den falschen Namen an und erhält eine neue Nummer als Kriegsgefangener. Dass er jüdisch ist, weiß die Lagerverwaltung nicht. Während der Aufnahme ins Lager werden sie angeschrien und geschlagen, die Haare werden rasiert, es gibt keine Betten und Matratzen und nicht ausreichend Decken, nur dünnen Kaffee zum Frühstück – eine richtige Hölle. Und noch einmal muss Moisej Temkin eine Überprüfung durch die Gestapo überstehen. Er wird dabei gefoltert: mit Peitschen ins Gesicht geschlagen, an mit hinter dem Rücken verbundenen Händen aufgehängt. Er verliert dabei das Bewusstsein, verrät seine jüdische Herkunft aber nicht.

Ankunft sowjetischer Kriegsgefangener im KZ Mauthausen, Oktober 1941. © Bundesarchiv, Bild 192-364 / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de

Moisej Temkin muss zuerst auf dem Bauhof des Lagers, dann beim Gleisbau in ein paar Kilometern Entfernung Schwerstarbeit leisten. Viele Kameraden sterben, der Tod wird alltäglich. Die Arbeit ist extrem kräftezehrend, Moisej verliert dabei einen Finger und muss trotz der Verletzung weitermachen. Immer wieder ist er dabei in Gefahr, als Jude enttarnt zu werden. Er wird kurzzeitig zur Arbeit im Steinbruch versetzt, dann, weil er so schwach ist, zurück auf den Bauplatz. Nach einer erneuten Selektion wird er der Invaliden-Baracke zugeordnet und bald darauf zurück ins KZ Dachau überstellt. Über neun Monate hat die Haft in Mauthausen gedauert, Rekord, das überlebt zu haben, schreibt er selbst später.

Rückkehr ins KZ Dachau und weitere Stationen der Zwangsarbeit

Bei der Neuaufnahme im KZ Dachau, wo der 26jährige Moisej Temkin diesmal als Politischer Häftling geführt wird, untersuchen und wiegen ihn die Lagerärzte. Sein Körpergewicht beträgt noch 39 kg. Er kommt in eine Baracke mit Arbeitsunfähigen. Trotz der viel zu kleinen Essensrationen bessert sich sein Zustand langsam. Er wird wieder zur Arbeit eingesetzt und trifft auf seinen ehemaligen „Stubenältesten“, der als Kommunist in Haft ist. Der versorgt ihn in den nächsten Wochen mit zusätzlichem Essen und spricht ihm Mut zu: Der Krieg sei bald vorbei.

Im Vergleich zu Mauthausen kommt es Moisej Temkin in Dachau weniger schlimm vor. Entsprechend besorgt ist er, als er hört, dass er verlegt werden soll. Im August 1943 wird er in das Außenlager Friedrichshafen gebracht, wo er Zwangsarbeit bei den Zeppelinwerken leisten muss. Hier sind die Häftlinge nicht nur der lebensbedrohlichen Behandlung durch die SS ausgesetzt, sondern auch der Bombardierungen der Alliierten, die solche Rüstungsfabriken zerstören wollen. Zum Schutz der Arbeitskräfte werden sie weiter entfernt untergebracht. Die Folge ist, dass sie täglich stundenlange An- und Abreisen per Bahn und zu Fuß auf sich nehmen müssen. Insgesamt 14 Monate verbringt er hier.

Nach der Zerstörung des Lagers durch alliierte Bomben wird Moisej Temkin Ende 1944 ins KZ Mittelbau-Dora gebracht. Hier befindet sich eine unterirdische Rüstungsfabrik. Er wird als Hilfsarbeiter eingesetzt und muss im Winter, bei großer Kälte, mit dünner Kleidung und ohne Handschuhe Zement schaufeln. Er schreibt später:

Ich spürte, dass diese Arbeit mich bald fertigmachen würde, aber ich wollte doch noch das Kriegsende erleben! Es war schon so nah, schwebte geradezu in der Luft. […] die SS-Leute benahmen sich nun auch nicht mehr so arrogant wie früher, viele ließen die Köpfe hängen.

Moisej Beniaminowitsch Temkin: Am Rande des Lebens. Erinnerungen eines Häftlings der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Hg. von Reinhard Otto, Berlin: Metropol 2017, S. 138

Zu seinem Glück wird er in ein anderes Kommando versetzt und kann zumindest zwischenzeitlich etwas leichtere Arbeit machen. Doch die Front rückt näher, das Lager wird nach und nach geräumt. Moisej Temkin bringt man zuerst ins KZ Ellrich, von dort auf einen Todesmarsch Richtung KZ Bergen-Belsen. Anfangs werden die Häftlinge für Tage ohne Essen und Trinken in einen Zug gesperrt, der mal fährt, mal steht. Dann müssen sie zu Fuß weiter. Als sie das Konzentrationslager erreichen, ist dort schon jede Ordnung und Struktur verloren: Überall liegen Leichen, es gibt keine Betten, keine Versorgung, nicht einmal Wasser. Die Ankömmlinge werden auch nicht registriert. Wenige Tage später wird Moisej Temkin, der mit aller Kraft diesen Tag erleben wollte, hier von britischen Truppen befreit!

Moisej Beniaminowitsch Temkin im Jahr 1946. © Privatbesitz Weniamin und Alexandr Temkin, Israel/USA

Rückkehr und ein schwieriger Neuanfang

Moisej Temkin will Bergen-Belsen so schnell wie möglich verlassen, um sich nicht noch mit einer der grassierenden Seuchen anzustecken. Zusammen mit einem anderen sowjetischen Häftling verlässt er das Lager und schlägt sich bis nach Berlin durch. Im ehemaligen KZ Sachsenhausen ist ein Repatriierungslager eingerichtet worden. Dort wird er versorgt, kann sich stärken, und kehrt vermutlich im Spätsommer in die Sowjetunion zurück. Auch er wird vom Geheimdienst überprüft. Kriegsgefangene müssen sich erklären: Haben sie mit den Deutschen kollaboriert? Der Beamte ist skeptisch, als er Moisejs Geschichte hört: Wie kann man so viele Konzentrationslager überleben? Aber letztlich glaubt man ihm doch. Er wird mit seinem Offiziersrang „demobilisiert“ und darf nach Hause fahren.

Doch wo ist seine Familie? Moisej Temkin bezweifelt, dass die Deutschen seinen Vater am Leben gelassen haben. Er schreibt einem polnischen Nachbarn und erhält zur Antwort: Sein Vater ist im Februar 1942 zusammen mit anderen Jüdinnen und Juden der Kleinstadt ermordet worden. Seine Schwestern aber sollen noch leben, er erfährt nur nicht, wo. So begleitet er zunächst einen Kameraden zu dessen Eltern. Moisej Temkin macht sich auf die Suche nach Arbeit, muss dabei aber feststellen, dass ihn niemand will – wegen der Kriegsgefangenschaft! Er ist verzweifelt.

Doch im Sommer 1946 findet er endlich seine Schwestern wieder. Und er trifft Tsilja, seine zukünftige Frau. Sie bekommen zwei Söhne. Moisej Temkin arbeitet ab Beginn der 1950er Jahre als Ingenieur. In den 1970er Jahre verfasst er seine Erinnerungen an die Kriegsgefangenschaft in Deutschland. 1979 geht er in Rente und wandert vier Jahre später mit seiner Frau nach Israel aus. Sie leben in Giwat Schmuel bei Tel Aviv.
Moisej Temkin stirbt 2006. Die Herausgabe seines Berichts als Buch in Deutschland erlebt er nicht, ebenso wenig die Einrichtung einer Gedenkstätte in Hebertshausen.

Moisej Temkin 2006
Moisej Temkin bei einer Gedenkfeier im Jahr 2006. © Privatbesitz Weniamin und Alexandr Temkin, Israel/USA

In seinem Heimatort Beschenkowitschi, wo insgesamt 900 jüdische Bürger*innen Anfang 1942 von den Deutschen ermordet wurden, errichten Angehörige 1954, nach Stalins Tod, ein Denkmal am Ort des Massengrabs.

Das Grab ist vernachlässigt, keiner kümmert sich darum. Nur Verwandte aus verschiedenen Städten des Landes kommen ab und zu dorthin und legen Blumen nieder. Es gibt keine Wegweiser. Und wenn man fragt, wo die Faschisten hier die Juden erschossen haben, winkt man mit der Hand Richtung Fluss und sagt: „Irgendwo dort.“

Moisej Beniaminowitsch Temkin: Am Rande des Lebens. Erinnerungen eines Häftlings der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Hg. von Reinhard Otto, Berlin: Metropol 2017, S. 175.

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