Ziegenhain

Die hessische Kleinstadt Ziegenhain liegt günstig an der Main-Weser-Eisenbahnlinie. Wenige Wochen nach Kriegsbeginn mit Polen wird hier das für den Wehrkreis IX zentrale Stammlager zur Aufnahme von Kriegsgefangenen eingerichtet: Das Stalag IX A Ziegenhain. Die ersten Gefangenen müssen in Zelten wohnen, der Ausbau mit Fachwerkbaracken beginnt erst ein knappes halbes Jahr später. Auf einem Areal von insgesamt 47 Hektar entstehen nach und nach das Vorlager für die deutsche Verwaltung, das Hauptlager für Kriegsgefangene unterschiedlicher (westlicher) Nationalitäten – vor allem Franzosen – und als kleinster Teil das sogenannte „Russenlager“, in das ab 1943 auch italienische Militärinternierte gesperrt werden.
Das Stalag ist für eine Belegung von 10.000 Menschen vorgesehen und entspricht damit der Standard-Größe für solche Unterbringungen. Pro Baracke gibt es 250 Schlafplätze. Zeitweise kommt es zu einer dramatischen Überbelegung, und bis zu 800 Menschen müssen sich eine Baracke teilen: für den Einzelnen steht nicht einmal ein Quadratmeter zur Verfügung. Zeitweise müssen zusätzlich wieder Zelte aufgestellt werden. Mindestens 44.000 Kriegsgefangene in externen Arbeitskommandos werden von hier aus verwaltet.

Blick auf die Lagerstraße © Gedenkstätte und Museum Trutzhain

Unterschiedliche Lebensbedingungen

Gemäß der nationalsozialistischen Ideologie werden die Kriegsgefangenen je nach Nationalität unterschiedlich behandelt. Das beginnt schon bei der Verpflegung: Die Kost für die westlichen Gefangenen ist zwar einseitig, aber ausreichend. Außerdem können sie in der Lagerkantine weitere Lebens- und Genussmittel kaufen sowie Hilfspakete von außen empfangen. Die kommen zum einen von Organisationen wie dem Roten Kreuz, zum anderen von Angehörigen, mit denen die Gefangenen im postalischen Austausch stehen. Dagegen: Wer im „Russenlager“ gefangen gehalten wird, erhält weniger und schlechteres Essen als die anderen, der Kontakt nach außen ist völkerrechtswidrig vollständig abgeschnitten.

Die französischen Unteroffiziere, die vom Arbeitseinsatz befreit sind, nutzen die durch die Genfer Konventionen ebenfalls garantierten Rechte auf Freizeitgestaltung und kulturelle Angebote voll aus: Es entstehen ein Orchester für klassische Musik, ein Jazzensemble, eine Schauspielgruppe, eine Fußballmannschaft, eine große Bibliothek und sogar eine selbst gegründete „Lager-Universität“ zur Weiterbildung. Der wohl berühmteste Ziegenhainer Gefangene, der spätere französische Staatspräsident François Mitterand, hält dort Vorträge über Jura. Diese vorbildliche Behandlung von Kriegsgefangenen wird sowohl von der deutschen als auch von der französischen Vichy-Regierung propagandistisch genutzt.
Die amerikanischen und britischen Soldaten nehmen diese Möglichkeiten deutlich weniger in Anspruch, sie fürchten Zensur und ideologische Einflussnahme, sie wollen sich nicht instrumentalisieren lassen.
Für die sowjetischen Gefangenen gibt es keinerlei Möglichkeit, sich an kulturellen Angeboten zu beteiligen. Der Überlebende Iwan Andrejewitsch Gusew berichtet, dass er und andere Gefangene einige wenige Bücher untereinander tauschten – ihre einzige Möglichkeit der kurzfristigen Ablenkung vom Lageralltag.


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Ehemalige Kriegsgefangene beschreiben die unterschiedlichen Lebensbedingungen

Ausschnitt aus dem Dokumentarfilm „Trutzhain – Erinnerungen an ein Kriegsgefangenenlager“ (2003) © Gedenkstätte und Museum Trutzhain

Wie es die Genfer Konventionen vorsehen, wird das Stalag vom Internationalen Roten Kreuz kontrolliert. Gerügt wird dabei mehrfach die schlechte medizinische Ausstattung des Lagers: Es gibt nur zwei Krankenbaracken, und in der einen sind die Lager-Apotheke und das Zahnlabor untergebracht. Für die allgemeinmedizinische Behandlung gibt es also viel zu wenig Platz – wer ernstlich krank wird, muss außerhalb des Lagers versorgt werden.
Das „Russenlager“ wird nicht kontrolliert. Durch den dort herrschenden Hunger und die schlechten hygienischen Verhältnisse verbreiten sich schnell Seuchen. Wer krank wird, wird daher ebenfalls verlegt. Die Lazarette für sowjetische Kriegsgefangene sind allerdings nicht dafür ausgestattet, Menschen wieder gesund zu machen. Die Kranken werden nur isoliert und sich selbst überlassen, die Sterberate ist extrem hoch.

Im „Russenlager“

Neben der Unterversorgung mit Lebensmitteln, den Krankheiten und der vielfach beschriebenen Kälte in den Baracken gibt es für sowjetische Kriegsgefangene in Ziegenhain bis zum Sommer 1942 eine weitere tödliche Gefahr: Es kommen Gestapo-Beamte ins Lager, die zusammen mit Mitarbeitern der Gruppe Abwehr Gefangene selektieren und vor allem politische Kommissare aussondern. Diese werden dann ins KZ Buchenwald gebracht und dort erschossen. Die genaue Zahl der Ermordeten ist nicht bekannt. Aus Ziegenhain werden mindestens 1.000 Personen nach Buchenwald überstellt.

Dass die sowjetischen und später auch die italienischen Gefangenen sehr viel schlechter behandelt werden, ist nicht nur innerhalb das Stalags allen klar. Auch in der deutschen Bevölkerung ist bekannt, dass diese Menschen besonders leiden. Begegnungen gibt es natürlich in den Arbeitskommandos, aber auch auf der Straße, beispielsweise bei der Ankunft der Kriegsgefangenen – obwohl die Wehrmacht sie extra am entlegenen Nordbahnhof aussteigen lässt, um den Gang durch die Stadt zu vermeiden.

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Eine Anwohnerin erinnert sich an die Ankunft sowjetischer Kriegsgefangener

Ausschnitt aus dem Dokumentarfilm „Trutzhain – Erinnerungen an ein Kriegsgefangenenlager“ (2003) © Gedenkstätte und Museum Trutzhain

Die Kriegsgefangenen werden in der Regel nach etwa einer Woche im Stalag einem Arbeitskommando in der Landwirtschaft oder der Industrie zugeordnet und dort auch untergebracht. Die Rotarmisten erhalten körperlich besonders harte Aufgabenbereiche: Im Straßen- und Bergbau, in der Rüstungsindustrie oder in Steinbrüchen. Nur einige wenige bleiben im Lager, um dort zu arbeiten, beispielsweise in der Küche oder in der Schuhwerkstatt. Dort arbeiten hauptsächlich sowjetische Gefangene, darunter auch Iwan Gusew, von dem ein Tagebuch aus dieser Zeit überliefert ist.


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