Die Genfer Konventionen

Welche Regeln gelten im Krieg für den Umgang mit Menschen, die nicht oder nicht mehr am Kampf teilnehmen? Ab dem 19. Jahrhundert ist diese Frage wiederholt international verhandelt worden. Die wichtigsten Verabredungen sind in den „Haager Landkriegsordnungen“ (beschlossen in Den Haag) von 1899 und 1907 und den sogenannten „Genfer Konventionen“ (beschlossen in Genf) von 1864, 1929 und 1949 festgehalten. Kurz vor der Unterzeichnung der 1. Konvention war in der schweizerischen Stadt 1863 das Internationale Rote Kreuz gegründet worden. Die neue, neutrale Hilfsgesellschaft für alle beteiligten Konfliktparteien sollte die Einhaltung der Verabredungen kontrollieren dürfen. 

Unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs wurden die bisherigen Vereinbarungen 1929 in Genf überarbeitet und ergänzt. Das Deutsche Reich ratifizierte das Abkommen 1934, es erkannte die Vorgaben also als rechtsverbindlich an. Damit gehörten sie zur Dienstvorschrift der Wehrmacht. Auch der Umgang mit Kriegsgefangenen war geregelt: Sie sollten menschlich behandelt, ausreichend versorgt und untergebracht, medizinisch betreut und mit Kleidung ausgestattet werden. Arbeiten war gegen Bezahlung erlaubt, allerdings nicht in Rüstungsbetrieben. Offiziere und Unteroffiziere sollten nicht arbeiten müssen. Kriegsgefangene hatten außerdem ein Anrecht auf den Empfang und das Senden von Post. Das Internationale Komitee des Roten Kreuzes und diplomatische Vertreter neutraler Staaten bekamen das Recht, die Zustände in den Kriegsgefangenenlagern zu kontrollieren.

Deutscher Rechtsbruch

Die Sowjetunion hatte nur eine der Genfer Konventionen von 1929 ratifiziert, nämlich die zur Behandlung von verwundeten Kriegsgefangenen, nicht die zur allgemeinen Behandlung von Kriegsgefangenen – Stalin wollte keine Kontrollen der Lager durch Dritte. Und das nahmen die Nationalsozialisten und die Wehrmachtsführung zum Vorwand, sich bei den Rotarmist*innen nicht an die Bestimmungen zu halten – ein Rechtsbruch, denn das Deutsche Reich war unabhängig vom Verhalten der anderen Kriegspartei dazu verpflichtet. Stalins Angebote, sich an die „Haager Landkriegsordnung“ von 1907 zu halten, lehnte Hitler mehrfach ab. Das bedeutet, dass er sich auch nicht darum scherte, wie es den eigenen Soldaten in sowjetischer Gefangenschaft erging…

Am 16. Juni 1941 setzte das Oberkommando der Wehrmacht also in einem geheimen Befehl über das „Kriegsgefangenenwesen im Fall Barbarossa“ („Fall Barbarossa“ war der Tarnnahme für den Überfall) zentrale Bestimmungen zum Schutz der sowjetischen Kriegsgefangenen außer Kraft. Bei Ernährung, Unterbringung, medizinischer Versorgung, aber auch bei den Arbeitsbedingungen wurden sie deutlich schlechter behandelt, Postverkehr und Kontrolle durch das Rote Kreuz gab es für die Rotarmist*innen nicht. Ihr Tod infolge dieser Behandlung wurde billigend in Kauf genommen. Die ideologischen Ziele im Kampf gegen die Sowjetunion dienten als Begründung auch gegenüber den eigenen Soldaten: Als Admiral Canaris, Leiter des militärischen Geheimdienstes, in einer Denkschrift vom 15. September 1941 (die von seinem Mitarbeiter James Graf von Moltke formuliert worden war, der später eine Widerstandsgruppe gründete) an Generalfeldmarschall Keitel auf den Rechtsbruch hinwies, bekam er am 23. September zur Antwort: „Die Bedenken entsprechen den soldatischen Auffassungen vom ritterlichen Krieg! Hier handelt es sich um die Vernichtung einer Weltanschauung, deshalb billige ich die Maßnahmen und decke sie. 23.9. K.[eitel]“

Diese Soldaten waren tagelang ohne Verpflegung. In den Genfer Konventionen ist aber geregelt, dass Gefangene genügend Nahrung und Trinkwasser sowie alle notwendigen Geräte zum Kochen erhalten müssen. Aufnahme vom 3. Juli 1941 © Bundesarchiv, Bild 101I-006-2212-30, Fotograf/in: Hermann

Schon in den ersten Monaten starben Millionen sowjetischer Kriegsgefangener an Hunger und Seuchen, weil sie auf freiem Feld verhungerten oder krank wurden. In den Stalags im Reichsgebiet war die Ungleichbehandlung der verschiedenen Nationalitäten für alle sichtbar. Der Moskauer Veteran Emmanuil Nikolajewitsch Sossin, der im Stalag in Ziegenhain in Gefangenschaft war, berichtet in seinem Brief an den Verein KONTAKTE-KOHTAKbI vom 11. April 2005 Moskau davon:

Während wir kaum verpflegt wurden und viele von uns starben, erhielten die Amerikaner, Franzosen und Engländer riesige Lebensmittelpakete vom Roten Kreuz. Sie spielten Fußball und bewegten ihre Muskeln. Helfen konnten sie uns nicht.

Emmanuil Nikolajewitsch Sossin: Brief an den Verein KONTAKTE-KOHTAKTbI vom 11. April 2005

In einem „Merkblatt für die Bewachung sowjet. Kriegsgefangener“ für die Wachmannschaften vom 8. September 1941 hieß es:

„Der Bolschewismus ist der Todfeind des nationalsozialistischen Deutschland. Zum ersten Male in diesem Kriege steht dem deutschen Soldaten ein nicht nur soldatisch, sondern auch politisch geschulter Gegner gegenüber, der im Kommunismus sein Ideal, im Nationalsozialismus seinen ärgsten Feind sieht. Im Kampf gegen den Nationalsozialismus ist ihm jedes Mittel recht: Heckenschützenkrieg, Bandentum, Sabotage, Brandstiftung, Zersetzungspropaganda, Mord. Auch der in Gefangenschaft geratene Sowjetsoldat, mag er auch äußerlich noch so harmlos erscheinen, wird jede Gelegenheit nutzen, um seinen Haß gegen alles Deutsche zu betätigen.“

Daraus folgte in der Logik der Wehrmacht, dass auch von der Waffe „schonungslos Gebrauch“ gemacht werden sollte.


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