Entschädigung?
Sowjetische Kriegsgefangene wurden jahrzehntelang nicht als Opfer des Nationalsozialismus angesehen. Daher hatten sie auch kein Recht auf eine finanzielle Entschädigung von Deutschland – weder für die erlittenen gesundheitlichen Schäden noch für die geleistete Zwangsarbeit. Nach den Genfer Konventionen war es erlaubt, Kriegsgefangene arbeiten zu lassen, argumentierte die deutsche Seite. Außerdem müssten deutsche Soldaten, die in sowjetischer Haft waren, dann auch entschädigt werden.
Auch im eigenen Land wurde den Überlebenden lange Zeit staatliche Hilfe verweigert. Kriegsteilnehmer*innen erhielten in der Sowjetunion (und erhalten im heutigen Russland) eine erhöhte Rentenzahlung, das Recht auf kostenlose Nutzung des Personennahverkehrs und ähnliche Vergünstigungen mehr. Dafür mussten sie aber als solche formal anerkannt sein, was man den Rückkehrer*innen aus Kriegsgefangenenlagern versagte. Da sie außerdem wegen ihres „Aufenthalts im Ausland“ Probleme bei der Arbeitssuche bekamen, gerieten viele Überlebende in ernste Geldnöte. Erst Ende der 1980er Jahre begann der Staat damit, kleine Extra-Pensionen an die zu zahlen, die ihre Zwangsarbeit in Deutschland nachweisen konnten.
KONTAKTE-KOHTAKTbI e.V.
Im Februar 1990, also nach dem Mauerfall und motiviert von der „Öffnungs“-Politik des sowjetischen Staatspräsidenten Michail Gorbatschow, gründete sich in Berlin der Verein KONTAKTE-KOHTAKTbI. Die Vereinsmitglieder wollten Kontakte in die Sowjetunion knüpfen, später in ihre Nachfolgestaaten. Wichtig war ihnen die historische Aufklärungsarbeit über die dort begangenen Verbrechen in Deutschland. Sie organisierten Reisen „Auf den Spuren der Wehrmacht“ und konzipierten Wanderausstellungen. Im Jahr 2000 wurde die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ (EVZ) gegründet. Sie sollte die Auszahlung der finanziellen Entschädigungen an ehemalige Zwangsarbeiter*innen durchführen. Die sowjetischen Kriegsgefangenen wurden einmal mehr aus dem Verfahren ausgeschlossen: Etwa 20.000 Anträge von ehemaligen Rotarmist*innen wurden wegen fehlender „Leistungsberechtigung“ abgelehnt. Der Verein KONTAKTE-KOHTAKTbI fand das ungerecht und begann ab 2003, private Spenden jeweils in Höhe von etwa 300 Euro an noch lebende ehemalige Gefangene zu verteilen. Bei der Kontaktaufnahme war die Stiftung EVZ behilflich. In seinem Begleitbrief bat der Verein die Empfänger*innen um Entschuldigung und um einen kleinen Zeitzeugenbericht als Antwort.
Freitagsbriefe
Durch diese Aktion entstand das Projekt „Freitagsbriefe“: Zwischen 2006 und 2016 wurde einmal in der Woche ein solcher Brief online veröffentlicht. Die Aktion gibt es bis heute, die Abstände zwischen den Veröffentlichungen sind aber größer geworden. Die rund 3.000 Briefe, die der Verein bisher insgesamt erhalten hat, werden mittlerweile im Deutsch-Russischen Museum in Berlin-Karlshorst aufbewahrt.
In dieser Online-Ausstellung werden mehrere Briefe gezeigt, zum Beispiel der von Dawid Dodin, der als Schreiber in Zeithain arbeitete. Darin fand sich der Hinweis auf sein Videointerview mit der Shoah Foundation, das hier in Auszügen zu sehen ist. Die Kolleg*innen aus der Gedenkstätte Ehrenhain Zeithain recherchierten seine Personalkarte mit Foto, und so setzte sich Stück für Stück ein Bild zusammen.
Die Reaktionen der ehemaligen Gefangenen auf das Engagement von KONTAKTE-KOHTAKTbI waren sehr positiv – und überrascht. Der Schmerz über das Erlebte und das fortgesetzte Unrecht in der Nachkriegszeit wurde in vielen Fällen ganz deutlich benannt.
„Ehrlich gesagt, für mich kam diese Hilfe völlig unerwartet, denn ich hatte in Bezug auf mein Schicksal schon jede Hoffnung auf Gerechtigkeit und Verständnis sowohl seitens der ukrainischen als auch der deutschen Regierung aufgegeben.“
Nikolaj Iossifowitsch Kusmenko: Brief an den Verein KONTAKTE-KOHTAKTbI vom 20. Oktober 2004
Memorial International
Der Umgang mit der Vergangenheit veränderte sich in der „Gorbatschow-Ära“ der Sowjetunion Ende der 1980er Jahre maßgeblich: 1988 wurde mit Memorial International eine Menschenrechtsorganisation gegründet, die vor allem die Verbrechen des GULAG-Systems aufarbeiten wollte. Sie sieht sich aber auch für die „Opfer zweier Diktaturen“ zuständig, also für diejenigen, die während des Zweiten Weltkriegs in Deutschland Zwangsarbeit leisten mussten und anschließend erneut verfolgt wurden.
Aus einem Missverständnis heraus entstand dort in den folgenden Jahren ein Archiv mit Zeitzeugenaussagen sowjetischer Zwangsarbeiter*innen und Kriegsgefangenen: Als im Zuge der Debatten im Deutschen Bundestag 1989/90 Entschädigungszahlungen für Zwangsarbeiter*innen beschlossen wurden, erschien darüber in der viel gelesenen Wochenzeitung „Nedelja“ ein Bericht mit der Überschrift: „Eine Pension aus dem Ausland“. Am Ende des Artikels wurden die Leser*innen aufgefordert, sich an die Organisation Memorial International zu wenden, die aber tatsächlich gar nichts mit den Anträgen zu tun hatte. In der Folgezeit trafen dort Briefe von über 440.000 Menschen aus dem ganzen Land ein, die darin ihre Verfolgungs- und Haftgeschichten erzählten. Die gesammelten Informationen wurden archiviert und führten zu mehreren, auch internationalen Zeitzeugen-Projekten. Einige dieser Videoaufzeichnungen sind auch hier zu sehen: Bei Olga Golowina, Michail Botschkarjow, Lew Mischtschenko und Igor Gurjewitsch.
Symbolische Anerkennung 2015
Im Mai 2015, 70 Jahre nach Kriegsende, kam es zu einer Kehrtwende in der deutschen Politik. Zum Gedenktag nannte der damalige Bundespräsident Joachim Gauck auf einer Veranstaltung in Schloß Holte-Stukenbrock, nahe des ehemaligen Stalags 326, die Behandlung der sowjetischen Kriegsgefangenen als ideologisch motiviert. Und am 20. Mai beschloss der Deutsche Bundestag eine einmalige Anerkennungszahlung von 2.500 Euro an die wenigen noch lebenden Betroffenen – man ging von etwa 2.000 Menschen aus.