Stukenbrock-Senne
In Vorbereitung des Überfalls auf die Sowjetunion wird im Mai 1941 mit dem Aufbau eines Stalags in Schloß Holte-Stukenbrock (zwischen Paderborn und Bielefeld) begonnen. Das Lager trägt die offizielle Bezeichnung Stalag 326 (VI K). Zunächst wird für die Unterbringung des Wachpersonals gesorgt. Die ersten 2.000 Gefangenen erreichen den Bahnhof Hövelhof am 10. Juli 1941, in den nächsten zehn Tagen kommen 8.000 weitere. Für sie gibt es noch keine Bebauung oder sanitäre Einrichtungen. Die Gefangenen müssen sich selbst helfen: Sie graben Erdhütten oder errichten kleine Unterstände aus allem, was sie finden können. Dann bekommen sie Holzbaracken, die sie selbst zusammenbauen müssen. Baugleiche Baracken sind vorher vom „Reichsarbeitsdienst“ (RAD) verwendet worden. Den RAD gibt es seit 1935: ein gering bezahlter Pflichtdienst, den jungen Männer und später auch Frauen für ein halbes Jahr leisten müssen – zur Stärkung der deutschen Wirtschaft und zur Erziehung im nationalsozialistischen Sinn.
Die Verpflegung ist katastrophal. Die Kriegsgefangenen erhalten viel zu wenig zu Essen, um bei Kräften zu bleiben. Berühmt wird die Wassersuppe, im Lagerjargon „Balanda“, die die Wehrmacht an die Rotarmist*innen ausgibt: Bräunliches Wasser mit wenigen, oft schon fauligen Gemüsestückchen – Möhren, Steckrüben, manchmal Kartoffeln. Unterernährung ist die Folge. Zusammen mit den schlechten hygienischen Bedingungen werden Seuchenausbrüche begünstigt. Ein Massensterben beginnt.
Mit der Zeit entsteht eine Lagerhierarchie: Die Deutschen nutzen Nationalitätenkonflikte innerhalb der Sowjetunion für ihre Zwecke und trennen Ukrainer, aber auch Belarussen, Esten, Letten und Litauer von den russischen Soldaten. Vor allem in diesen Gruppen suchen sie nach geeignetem Personal für eine „Lagerpolizei“. Die „Polizisten“ bekommen eine Uniform, Knüppel und bessere Verpflegung. Überlebende beschreiben sie als besonders brutal. Es sind Fotografien erhalten, auf denen man sieht, wie sie gegen die eigenen Leute vorgehen.
Arbeitskommandos
Das Stalag 326 versorgt eine bevölkerungs- und industriereiche Region mit billigen Arbeitskräften. Jeder dritte sowjetische Kriegsgefangene, der im Laufe des Krieges nach Deutschland zur Zwangsarbeit gebracht wird, durchläuft dieses Lager im Wehrkreis VI. Nach der Registrierung werden die Gefangenen umgehend im ganzen Ruhrgebiet verteilt. In fast jeder Branche, im Bergbau, der Stahlindustrie, aber auch in der Landwirtschaft, gibt es solche „Russeneinsätze“, denn die deutschen Männer sind mehrheitlich in der Wehrmacht.
Widerstand im Lazarett
Wer sich in einem solchen Arbeitskommandos verletzt oder aus anderen Gründen arbeitsunfähig ist, wird zurück ins Stalag geschickt. Die Ausstattung in der Sanitätsbaracke, in der ebenfalls Kriegsgefangene arbeiten, ist schlecht. Aber wie an anderen Standorten, zum Beispiel in Bergen-Belsen oder Zeithain, entsteht auch hier eine Widerstandsorganisation. Warum im Lazarett? Weil sich das deutsche Wachpersonal wegen der Ansteckungsgefahr nicht hinein traut, dort sind die Gefangenen längere Zeit unbeobachtet. Die Verschwörer*innen – zu nennen sind hier vor allem die Chefärzte I. G. Alexejew und G. M. Matwejew – helfen, Menschen zu verstecken und Identitäten zu vertauschen. Sie gipsen Arme oder Beine ein, die gar nicht gebrochen sind, um den Erschöpften eine Pause zu verschaffen. Außerdem werden von hier aus Informationen in verschiedene Arbeitskommandos und das benachbarte Lazarett in Staumühle geschmuggelt. Das medizinische Personal ist dadurch über die Kriegslage informiert.
2. April 1945: auch Selbstbefreiung
Dass der Krieg für die Deutschen schlecht steht, wissen die Widerständler*innen. Als Ende März die Amerikaner immer näher kommen, gibt es Diskussionen in der deutschen Lagerverwaltung, ob man das Stalag räumen, kampflos übergeben oder sogar verteidigen soll. Die Wehrmacht kann sich zu keinem Vorgehen entschließen und ist faktisch handlungsunfähig. Hier wird die Untergrundorganisation aktiv und übernimmt die Lagerverwaltung, ohne dass es zum Kampf mit dem Wachpersonal kommt. Als die amerikanischen Befreier am 2. April 1945 das Lager erreichen, ist die Gruppe schon dabei, die Versorgung der etwa 1.500 Kranken zu organisieren. 8.610 Menschen, alle im Zustand der Unterernährung, befinden sich insgesamt im Lager. Die Amerikaner drehen einen Film, in dem man vor allem nach Essen suchende oder essende Menschen sieht: sie haben als erstes die Küchenbaracke gestürmt. Der Kriegsberichterstatter John M. Mecklin schreibt in seinem Artikel „How Nazis Starve War Prisoners“ vom 4. April 1945 in der Chicago Sun über diesen Tag:
„Wenn die Amerikaner, die heute hier waren, die Deutschen nicht sowieso schon haßten, dann tun sie es jetzt. Es ist schwer für einen Amerikaner zu begreifen, daß es so einen Ort überhaupt geben kann. Es ist ein Ort voller Dreck und Elend, so verkommen, daß einige unserer Truppen sich erbrechen mußten . […] Es ist ein Ort, an den man sich erinnern muß, wenn der Nazismus einmal zur Rechenschaft gezogen werden wird.“
Das Wachpersonal läuft in dieser Situation den Amerikanern entgegen und begibt sich freiwillig in Kriegsgefangenschaft: Die Wehrmachtssoldaten fürchten sich vor der Rache der Gefangenen und hoffen, so in Sicherheit zu sein.
Bald nach der Befreiung wird von den Überlebenden ein Obelisk mit Inschriften in drei verschiedenen Sprachen bei den Massengräbern aufgestellt. Die Lagerverwaltung bleibt bis zur Auflösung des Stalags Ende Juni 1945 in sowjetischer Hand. Sie organisiert nun die Rückkehr der Kriegsgefangenen in die Heimat.
Insgesamt durchlaufen über 300.000 sowjetische Kriegsgefangene das Lager. Im weiteren Kriegsverlauf kommen auch Franzosen, Belgier, Polen, Serben und ab 1943 Italiener hierher. Etwa 15.000 Kriegsgefangene, fast ausschließlich Rotarmist*innen, sterben an Hunger, Krankheiten oder Erschöpfung. Die Massengräber sind bis heute erhalten. Es sind 36, jedes davon über hundert Meter lang.