Rückkehr
In der Sowjetunion war die Rechtslage zu Beginn des Krieges klar: Rotarmist*innen, die in Gefangenschaft gerieten, machten sich eines Verbrechens schuldig. Sie konnten dafür nach Paragraf 193 des Strafgesetzbuches („willkürliches Verlassen der Truppe“ oder „Flucht von der Truppe“) verurteilt werden, Offiziere sogar zur Höchststrafe: Erschießen. Im Laufe des Krieges wurden dazu weitere Befehle erlassen, in denen die militärische Führung klar machte, dass sie keinen Unterschied sah zwischen Überläufern zum Feind und Soldat*innen, die von den deutschen Truppen überrannt oder eingekesselt und dann gefangen genommen wurden. Statt sich zu ergeben, erwartete man von ihnen, dass sie sich mit ihrer letzten Kugel selbst töteten.
Schon im Jahr 1941 wurden spezielle Lager – so genannte Filtrationslager – errichtet, in denen man befreite Kriegsgefangene überprüfte: Sie wurden entweder tatsächlich getötet, inhaftiert oder zurück an die Front geschickt.
Repatriierung = Rückkehr in die Heimat
Nach Kriegsende fürchteten daher viele Stalag– und KZ-Überlebende die Rückkehr, ganz egal, ob sie tatsächlich übergelaufen waren, mit den Deutschen kollaboriert hatten, Mitglieder der ab 1942 aufgestellten Ostlegionen oder der Wlassow-Armee waren – oder nichts von alldem. Manche versuchten, in Deutschland zu bleiben, doch Stalin hatte Absprachen mit den Staatschefs der Alliierten getroffen, dass Sowjetbürger auch gegen ihren Willen so schnell wie möglich zurückgeführt werden sollten. Sie lieferten die von ihnen befreiten Gefangenen also an die Sowjetunion aus.
Wer „repatriiert“ werden sollte, kam zunächst in ein zur Sammlung dieser Menschen speziell eingerichtetes Lager auf deutschem Gebiet oder in Polen (häufig in ehemaligen Lagern oder Gefängnissen der Nationalsozialisten), dann in ein Filtrationslager in der Sowjetunion. Man musste dort erklären, wann, wie und warum man in Gefangenschaft geraten war und wie man sich danach verhalten hatte. Die Vernehmungen, die oft gewaltsam verliefen, führten vor allem Mitarbeiter des Militär-Geheimdienstes NKWD durch. Ihre Anweisungen waren dabei nicht ganz eindeutig und vor allem den Betroffenen nicht transparent: Allein der Aufenthalt in einem Kriegsgefangenenlager war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr strafbar. Die Geheimdienstleute hatten aber große Spielräume und konnten selbst entscheiden, wem sie was glaubten.
Viele ehemalige Kriegsgefangene erzählten, sie seien verletzt und ohnmächtig gewesen und hätten daher ihre Gefangennahme gar nicht wirklich mitbekommen – diese Version schien am sichersten zu sein. Da man aber nicht nur zu seiner eigenen Geschichte, sondern auch zu Kamerad*innen gefragt wurde, konnte es durchaus sein, dass jemand anderes einen mit seiner Aussage belastete. Nach der tatsächlichen Rückkehr nach Hause erfolgte in der Regel auch deswegen eine zweite Überprüfung. Zwischen 15 und 20% der Rückkehrer*innen wurden zu einer Haftstrafe in einem Arbeitslager des GULAG verurteilt.
Alle Zeitzeugen in dieser Ausstellung haben ein Filtrationslager durchlaufen, mit unterschiedlichen Ergebnissen: Dawid Dodin durfte 1946 zunächst nach Hause, wurde aber zwei Jahre später verhaftet und zu 10 Jahren GULAG-Haft verurteilt. Lew Mischtschenko wurde gleich nach Kriegsende verhaftet und von Deutschland aus direkt nach Petschora ins Straflager geschickt. Olga Golowina durfte nach Hause, musste dann aber über Jahre hinweg immer wieder zum Verhör beim Geheimdienst erscheinen. Viele berichten von Schwierigkeiten bei der Arbeitssuche und anderen Nachteilen im Alltag. Kein Wunder: Auf amtlichen Fragebögen wurde standardmäßig gefragt, ob man „repatriiert“ worden war oder sich „im Ausland“ aufgehalten hatte. Die Kriegsgefangenen wurden außerdem nicht als Kriegsteilnehmer anerkannt und blieben somit von Vergünstigungen, die diese Gruppe erhielt (wie die kostenlose Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs und höhere Renten), ausgeschlossen.
Auch nach Stalins Tod änderte sich daran nur langsam etwas. Und was blieb: Die Überlebenden der deutschen Gefangenschaft hatten für ihre Geschichten kein Publikum, niemand wollte ihr Leid hören. Boris Popov spricht über diese Kränkung in seinem Zeitzeugeninterview sehr eindrucksvoll. Und Stepan Kirijanowitsch Kowalenko schrieb in seinem Brief an den Verein KONTAKTE-KOHTAKTbI:
Ich lebte in meiner Heimat als ehemaliger Kriegsgefangener, als „Verräter“ abgestempelt, ohne Respekt und Anerkennung. Ich musste mein Kreuz in Vergessenheit tragen und, weiß der Herr, wessen Sünden büßen.
Stepan Kirijanowitsch Kowalenko: Brief an KONTAKTE-KOHTAKTbI, 7. September 2005