Olga Wassiljеwna Golowina

„Wie wir [über den Krieg] gedacht haben? Dass er nicht lange dauern würde. Dass wir sie schnell vertreiben, sie rausjagen.“

  • 1923 geboren in Rjasan (Russland)

  • 1942 Ausbildung zur Funkerin an der Militärschule in Gorki, heute Nischni Nowgorod

  • 1943 erster Einsatz an der 4. Ukrainischen Front als Teil der Aufklärungstruppe im rückwärtigen Dienst

  • Okt 1944 mit den Landungstruppen in Ungarn

  • Nov 1944 Gefangennahme durch ungarische Soldaten, Übergabe an die Deutschen. Gestapogefängnis in Budapest, Festungshaft in Komárom (Ungarn)

  • Dez 1944 mit einem ungarischen Gefangenentransport ins KZ Ravensbrück bei Fürstenberg (Deutschland)

  • April 1945 Flucht während der Räumung des Lagers zu den sowjetischen Truppen

  • nach Mai 1945 Arbeit bei der Militärhandelsorganisation in der sowjetisch besetzten Zone

  • April 1946 Rückkehr nach Moskau

  • Nov 1946 findet nach vielen Absagen Arbeit als Sekretärin beim Rundfunkkomitee

  • Feb 1947 Entlassung aufgrund der Kriegsgefangenschaft, 3 Tage Inhaftierung im Lubjanka-Gefängnis des Geheimdienstes

  • Mai 1947 Rückkehr zum Rundfunkkomitee und Wechsel ans Staatliche Rundfunkhaus, weiterhin regelmäßige Vernehmungen im Lubjanka-Gefängnis

  • 1966 Eintritt in die KPdSU

  • 1978 Rente

  • 1980 Erster Besuch der Gedenkstätte Ravensbrück zum 35. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers, weitere folgen 1990, 1995, 2000 und 2005

  • 2005 Lebensgeschichtliches Interview für Memorial International Moskau

Lebensstationen

Moskau * Rjasan Budapest Komárom Ravensbrück Nischni Nowgorod

Freiwillig zur Armee

Olga Golowina wächst in Moskau auf. Im Sommer 1941, als das Deutsche Reich die Sowjetunion überfällt, hat sie gerade die Schule beendet. Im folgenden Jahr stirbt ein enger Freund im Kampf gegen die Deutschen. Daraufhin meldet sie sich freiwillig zur Roten Armee, die Frauen auch als Soldatinnen aufnimmt.
Die 19-Jährige wird in Gorki zur Funkerin ausgebildet. Olgas erster Einsatz ist an der ukrainischen Front. Dann wird sie im Oktober 1944 mit einer kleinen Spezialeinheit ins gegnerische Ungarn geschickt. Diese Einheit wird dort von ungarischen Soldaten gefangen genommen und an die Deutschen ausgeliefert: Ungarn gehört im Zweiten Weltkrieg zu den Verbündeten Deutschlands. Bevor das Land wegen der drohenden Niederlage die Seiten wechseln kann, wird es im März 1944 von den Deutschen besetzt und zur weiteren Zusammenarbeit gezwungen.

Porträt von Olga Golowina als junge Soldatin
Olga Golowina in Uniform, um 1942. Diese Fotografie stammt aus der Sammlung des Klubs „Rote Nelke“ der sowjetischen Schule in Fürstenberg, der sich zu DDR-Zeiten um den Kontakt zu den ehemaligen Gefangenen des KZ Ravensbrück bemühte. © Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück

Sowjetische Soldatinnen werden zu diesem Zeitpunkt gar nicht mehr in Stalags im Reichsgebiet untergebracht. Sie verlieren umgehend ihren Kriegsgefangenenstatus und werden hinsichtlich ihrer politischen „Zuverlässigkeit“ überprüft – scheinen sie ungefährlich, werden sie zur Zwangsarbeit geschickt. In einem Runderlass des Chefs der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes vom 11. Mai 1944 heißt es dazu allerdings:

„Da gegen die aus dem Operationsgebiet abgeschobenen kriegsgefangenen Frauen im allgemeinen abwehrmässige Bedenken bestehen, wird die sicherheitspolizeiliche Untersuchung in der Regel die politische Unzuverlässigkeit dieser Frauen ergeben. […] Die ausgesonderten kriegsgefangenen russischen Frauen sind im üblichen Verfahren dem nächsten Frauenkonzentrationslager zu überstellen.“

Im KZ Ravensbrück

Olga Golowina wird nach Budapest gebracht, wo die Gestapo, die Geheime Staats-Polizei, sie foltert und verhört. Weil um die ungarische Hauptstadt schwer gekämpft wird, werden die Gefangenen ins weiter westlich gelegene Komárom verlegt. Von dort kommt Olga mit einem Transport ungarischer Gefangener nach Deutschland. Im Dezember 1944 erreicht der Zug das Frauen-KZ Ravensbrück, nördlich von Berlin. Sie gilt also als „politisch unzuverlässig“.
Nach einer Woche in Quarantäne wird Olga Golowina als „Politischer Häftling“ Block 18 zugewiesen, einer Baracke mit sowjetischen Frauen. Jetzt ist die SS, nicht die Wehrmacht, für sie zuständig. Eine Haftnummer ist nicht überliefert. Das ist nicht ungewöhnlich: Viele Zugangsbücher des Lagers fehlen, weil die Täter sie bei der Räumung kurz vor Kriegsende vernichteten.

Wir hielten zusammen, konnten einander helfen, ohne dass die Aufseher es mitbekamen.

Olga Golowina in ihrem Zeitzeugeninterview über die Häftlingsgemeinschaft im KZ Ravensbrück (2005)
Das Lagergelände mit Häftlingsbaracken
Blick über das Gelände des KZ Ravensbrück. Diese Fotografie von 1940/41 stammt aus einem Album, dass die SS über das Frauen-Konzentrationslager angelegt hat. © Fotograf*in unbekannt, Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, Foto-Nr. 1642k

Solidarität und Widerstand

Olga berichtet später in einem Interview von den Lebensbedingungen im Konzentrationslager: Zu ihrem großen Glück sind die Frauen in dieser Baracke untereinander solidarisch, sie helfen sich gegenseitig – und das ist hier überlebenswichtig. Welcher Häftlingsgruppe die anderen zugeordnet waren, ist heute kaum zu klären: In Ravensbrück waren um die 25.000 sowjetische Häftlinge, darunter etwa 800 kriegsgefangene Rotarmist*innen.
Geradezu berühmt sind in den Erinnerungen ehemaliger Ravensbrücker Häftlinge die 536 weiblichen sowjetischen Kriegsgefangenen, die im Februar 1943 aus der Ukraine zunächst nach Soest im heutigen Nordrhein-Westfalen gebracht wurden. Dort verweigerten sie kollektiv die Zwangsarbeit in der deutschen Rüstungsindustrie und wurden dafür ins KZ Ravensbrück geschickt – so die vielfach überlieferte Geschichte.

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Lageralltag im KZ Ravensbrück

Olga Golowina betont in ihrem Zeitzeugen-Interview die große Solidarität unter den inhaftierten Frauen. © Memorial International Moskau (2005)

Bleistiftzeichnung von drei Frauen in Häftlingskleidung
Bleistiftzeichnung der Französin Eliane Jeannin-Garreau: Zwei Häftlingsfrauen, die einen Kessel vermutlich mit Essen schleppen. Im Vordergrund steht eine weitere Häftlingsfrau. © Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, V1624/12 E1

Die Rettung der Kinder

In ihrem Interview erzählt Olga auch eine weitere, häufig erzählte Geschichte, die in der Erinnerungskultur zu Ravensbrück bis heute zentral ist: die von der Rettung sowjetischer Kinder durch Häftlingsfrauen in Block 18. Biografien dieser Kinder und ihrer „Adoptivmütter“ finden sich auch in der heutigen Dauerausstellung der Mahn- und Gedenkstätte.

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Olga Golowina erzählt, wie die sowjetischen Frauen Kinder retteten

Die Geschichte von den geretteten Kindern ist für die Erinnerung an den KZ Ravensbrück zentral. © Memorial International Moskau (2005)

Im Blockbuch zur Baracke 18 sind einige der von Olga Golowina genannten Kinder mit ihren Haftnummern verzeichnet. Auf dieser Seite zu sehen: Stella (Stella Kugelmann, dritte von oben), Galotschka (Galina Kabanowa, fünfte von oben), Lilja (Lida Kowalenko, sechste von oben) und Ljonetschka (Leonid Klujew, siebter von oben). Unter Häftlings-„Art“ steht der Vermerk „Kind“. © Lund University Library

Während der Räumung des Lagers Ende April 1945 gelingt Olga Golowina mit anderen Frauen die Flucht. Sie schlagen sich zu den sowjetischen Truppen durch. Olga Golowina bleibt auch nach Kriegsende zunächst in Deutschland und arbeitet in der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) für die Militärhandelsorganisation, die Einkaufsmöglichkeiten für das militärische Personal organisiert. Dort ist sie für die Verteilung beschlagnahmter Wertsachen zuständig. Sie verliebt sich in den Rotarmisten Jakow und wird schwanger. 1946 kehrt sie alleine nach Moskau zurück, im Juli kommt dort ihre Tochter zur Welt.

Verfolgung und Diskriminierung

Olga Golowina wird – wie alle, die in deutschen Lagern waren – verdächtigt, mit dem Feind zusammengearbeitet zu haben. Als sie nach ihrer Rückkehr einen Pass beantragen will, muss sie sich vom sowjetischen Geheimdienst KGB verhören lassen. Man befragt sie auch zum Verhalten von Mitgefangenen. Aufgrund ihres Aufenthalts in Deutschland erhält sie bei der Arbeitssuche zunächst nur Absagen. 1947 wird sie drei Tage im Hauptsitz des Geheimdienstes, im berüchtigten Lubjanka-Gefängnis festgehalten. Vier Jahre lang muss sie regelmäßig zu weiteren Verhören beim Geheimdienst erscheinen. Nach einer dieser Befragungen erleidet sie einen Nervenzusammenbruch.
Neben den Erniedrigungen und Benachteiligungen als ehemalige Kriegsgefangene müssen sich viele Überlebende wie Olga Golowina außerdem damit abfinden, dass sich niemand für ihre Erlebnisse aus der Kriegszeit interessiert: Wem erzählt man von der Lagerhaft in Deutschland und den Lebensbedingungen, wenn einen der Aufenthalt dort verdächtig macht?

Das Geheimdienstgebäude am Lubjanskaja-Platz, mit dem Olga Golowina so viel Schrecken verbindet, wird immer noch genutzt. Das Gefängnis darin ist seit 1957 geschlossen. 1985 wurde sogar ein Museum zur Geschichte des Geheimdienstes eingerichtet, das aber nicht mehr öffentlich zugänglich ist. Im Jahr 1990 hat die Menschenrechtsorganisation Memorial auf dem Platz davor einen Gedenkstein für die Opfer des Stalinismus aufgestellt. Weitere Moskauer Gedenkzeichen an den Großen Vaterländischen Krieg sind in der Biografie von Lew Mischtschenko zu finden.
Das Foto zeigt den Lubjanskaja-Platz mit dem Denkmal im Vordergrund, das gelbe Gebäude ist die „Lubjanka“. Die Aufnahme stammt vom 30. Oktober 2019, dem offiziellen Gedenktag für die Opfer politischer Repressionen © Fotografin: Oksana Juschko

Im Fall der Ravensbrücker Häftlingsfrauen geschieht allerdings in dieser Hinsicht etwas Besonderes: Mitte der 1950er Jahre treten ehemalige kriegsgefangene Frauen im neu gegründeten sowjetischen Veteranenkomitee in Erscheinung und beanspruchen, dass auch ihre Geschichte gehört wird. Sie organisieren 1958 in Moskau ein Treffen mit fast 300 ehemaligen Ravenbrücker Häftlingen aus dem ganzen Land. Es werden Ereignisse aus der Haftzeit beschworen, die sich durchaus für eine Heldengeschichte eignen: Der Widerstand gegen die Zwangsarbeit in Soest, die Solidarität unter den Frauen im Lager und die gemeinsame Rettung der sowjetischen Kinder – mit diesen Erzählungen können die Frauen durchaus an die Öffentlichkeit gehen, und es ist sicher kein Zufall, dass auch Olga Golowina sie in ihrem lebensgeschichtlichen Interview erzählt…

Reisen nach Deutschland

Jahrzehnte später reist Olga Golowina mehrfach wieder nach Deutschland: Sie nimmt zusammen mit einer Gruppe von Moskauer Frauen an insgesamt fünf Feiern zum Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers in der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück teil. Der erste Besuch findet 1980 statt, der letzte 2005. Sie bekommt also auch einen Eindruck davon, wie sich der Umgang mit der Vergangenheit nach dem Fall der Mauer verändert…


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