Erinnerung

Die juristische und gesellschaftliche Aufarbeitung der NS-Diktatur hat bis heute Leerstellen. Die Verbrechen, die Wehrmacht und SS an kriegsgefangenen Rotarmist*innen (und der sowjetischen Zivilbevölkerung) begangen haben, sind zumindest in der breiten Öffentlichkeit bis heute nicht bekannt. Es gibt zwar einige Gedenkstätten an Standorten ehemaliger Stalags wie in Schloß Holte-Stukenbrock, Sandbostel oder Zeithain, aber sie liegen in der Regel abseits großer Städte und wirken trotz ihres vielfältigen Vermittlungsangebots kaum über ihre Region hinaus. Zahllos sind demgegenüber Leidensorte, die überhaupt nicht als solche gekennzeichnet sind, wie Orte der Zwangsarbeit oder Quartiere für Arbeitskommandos, die es bis in die entlegensten Winkel des Landes zu Tausenden gegeben hat.

Wiese mitten im Industriegebiet von Hommerich, Gemeinde Lindlar (NRW): Hier waren sowjetische Kriegsgefangene untergebracht. Ein Hinweisschild gibt es bis heute nicht. Foto: Ruth Preusse (2019)

Das Deutsch-Russische Museum in Berlin-Karlshorst betreibt eine Webseite, auf der man deutschlandweit nach Gräbern von Rotarmist*innen suchen und die Angaben auch mit eigenen Fotos ergänzen kann. Im Sommer 2020 werden dort über 4.100 Ortseinträge angezeigt. In der Regel finden sich auf den genannten Friedhöfen keine Hinweise auf die Todesumstände – dass Menschen starben, die doch eigentlich durch die Genfer Konventionen hätten geschützt sein müssen.

BRD und Kalter Krieg

Im ersten Jahrzehnt nach Kriegsende war es auch die Sorge um die eigenen Soldaten in sowjetischer Gefangenschaft, die eine kritische Beschäftigung mit dem Thema überlagerte. Und mit dem „Kalten Krieg“ kamen für den Westen Deutschlands ideologische Gründe hinzu: Die Sowjetunion war und blieb der Feind.
Auch Historiker*innen haben sich erst sehr spät an das Thema Kriegsgefangene gewagt. Die Benennung der Täterschaft des deutschen Militärs wurde lange Zeit als „Nestbeschmutzung“ verunglimpft. Eine erste Doktorarbeit wurde 1978 von Christian Streit veröffentlicht. Lokale Initiativen für die Schaffung von Gedenkorten entstanden vermehrt in den 1980er Jahren aufgrund von bürgerschaftlichem Engagement, getragen von der Friedensbewegung. Ein paar Jahre später, rund um den 50. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion, wurde in Niedersachsen eine erste Wanderausstellung gezeigt und die Gedenkstätte Bergen-Belsen eröffnet.
Heute sind die historischen Fakten unstrittig, haben es aber bisher nicht geschafft, in die kollektive Erinnerung an die NS-Verbrechen aufgenommen zu werden.

Demonstration von Befürwortern eines Gedenkorts in Sandbostel aus dem Jahr 1980. Die Eröffnung war im Jahr 2007. © Fotograf*in unbekannt, 3. Mai 1980, Archiv der Bremervörder Zeitung

Deutsche Demokratische Republik

In der DDR verlief die Beschäftigung mit diesem Thema zwar anders, aber auch nicht aufrichtig: Initiiert von der sowjetischen Besatzungsmacht wurden an „Tatorten“ mit Massengräbern oder Friedhöfen schon sehr früh Denkmäler aufgestellt, häufig Obelisken mit sowjetischen Symbolen wie einem roten Stern oder Hammer und Sichel. Einzelne Gräberfelder wurden zu „Ehrenhainen“ umgestaltet wie in Zeithain. Den sowjetischen Kriegsgefangenen, die in ihrer Heimat als Verräter*innen galten, sollte hier nicht individuell gedacht werden: Die Toten wurden zu Opfern im Kampf gegen den Faschismus erklärt. Wo die Gefangenschaft überhaupt zur Sprache kam, wurde der Widerstand betont – ganz ähnlich wie in den Nationalen Mahn- und Gedenkstätten der DDR in Buchenwald, Sachsenhausen und Ravensbrück. Eine tatsächliche Aufarbeitung des Geschehens in der NS-Zeit, beispielsweise der Ausbeutung durch Zwangsarbeit, erfolgte nicht: Die großen Industriebetriebe wurden verstaatlicht, der Neubeginn war – zumindest äußerlich – perfekt.

Feierlichkeiten in Oschatz in den 1950er Jahren. Damals befanden sich die Gräber der sowjetischen Kriegsgefangenen noch mitten in der Stadt. Quelle: Sammlung Gabriele Teumer.

Mauerfall, Wiedervereinigung und das Ende der Sowjetunion brachten auch hinsichtlich des Umgangs mit den Verbrechen an den sowjetischen Kriegsgefangenen einige Veränderungen mit sich. In den Jahren 1996 und 1997 wurden in Berlin und Podolsk die verschollen geglaubten Wehrmachtsunterlagen mit den Personalkarten der Gefangenen wiedergefunden. Ein deutsch-russisches Gemeinschaftsprojekt hat diese Daten erfasst und in Teilen veröffentlicht. Für Angehörige, Gedenkstätten, lokale Initiativen und Geschichtsvereine gibt es also eine Möglichkeit, herauszufinden, wer in den Massengräbern auf deutschem Boden liegt. Denn auch diese Informationen finden sich in der Regel in den Unterlagen: Wer wann gestorben ist und wo beerdigt wurde. Zehntausende Namen sind schon recherchiert und auf Gedenktafeln aufgelistet worden, in Zeithain, Neubrandenburg und Elsterwerda ist diese Arbeit sogar abgeschlossen. Der „Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge“ und die Arbeitsgemeinschaft Bergen-Belsen führen an verschiedenen Orten seit Jahren solche Projekte mit Jugendlichen durch: Für die Toten werden sogenannte Namensziegel hergestellt und auf den Friedhöfen aufgestellt.

Namensziegel-Projekt der Oberschule Liebenburg (2019) © Fotograf*in unbekannt, Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, Bezirksverband Braunschweig

Jahrestag des Kriegsendes

Der 8. Mai wird heute in Deutschland als „Tag der Befreiung“ bezeichnet. Das war in der Bundesrepublik nicht immer so. Jahrzehntelang dominierte das Gedenken an die deutschen Opfer des Krieges. Erst 1985 sprach der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner Rede zum Jahrestag des Kriegsendes von einer „Befreiung“ statt von Niederlage, und das war ein Meilenstein in der Aufarbeitung der Vergangenheit. Er sagte:

Die meisten Deutschen hatten geglaubt, für die gute Sache des eigenen Landes zu kämpfen und zu leiden. Und nun sollte sich herausstellen: Das alles war nicht nur vergeblich und sinnlos, sondern es hatte den unmenschlichen Zielen einer verbrecherischen Führung gedient. Erschöpfung, Ratlosigkeit und neue Sorgen kennzeichneten die Gefühle der meisten. Würde man noch eigene Angehörige finden? Hatte ein Neuaufbau in diesen Ruinen überhaupt Sinn?
Der Blick ging zurück in einen dunklen Abgrund der Vergangenheit und nach vorn in eine ungewisse dunkle Zukunft.
Und dennoch wurde von Tag zu Tag klarer, was es heute für uns alle gemeinsam zu sagen gilt: Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.

Ein zentrales, staatlich finanziertes Denkmal für die rund 27 Millionen Toten der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg wird immer wieder diskutiert, ist aber von einer Umsetzung noch weit entfernt. Und die Entschädigung der Überlebenden wurde hinausgezögert, bis die meisten von ihnen verstorben waren. Erst 2015 gab es dazu einen Bundestagsbeschluss.

Umgang in der Sowjetunion und Russland

Der „Große Vaterländische Krieg“ hatte rund 27 Millionen sowjetischen Bürger*innen das Leben gekostet. Die offiziellen Opferzahlen wurden von Stalin und noch lange nach seinem Tod nach unten korrigiert: Der Preis für den Sieg sollte nicht so groß gewesen sein. Auch die Umstände des Kriegsbeginns, der zu so vielen Gefangenen geführt hatte, wurden jahrzehntelang tabuisiert. Bis heute wird der Ende August 1939 geschlossene Nichtangriffspakt zwischen Hitler und Stalin in den beiden Staaten höchst unterschiedlich bewertet.
Der Sieg über den Faschismus und das Gedenken an die Held*innen, die in diesem Kampf gefallen waren, spielte und spielt eine umso größere Rolle: Das große Leid hat zumindest einen Sinn gehabt und hilft, Nationalstolz und Patriotismus auch in der Gegenwart zu stärken.

In Antonina Konjakinas Heimatstadt Wolgograd steht seit 1967 die monumentale Statue „Mutter Heimat ruft!“ in Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg. © Alexander Belenkiy

„Tag des Sieges“

Nach Stalins Tod setzte sein Nachfolger Nikita Chruschtschow die Zahl der Kriegsopfer von 10 auf 20 Millionen hoch. Stalin persönlich wurde nun für diese vielen Toten verantwortlich gemacht. Damit waren alle anderen Mitglieder der Staatsführung aus der Verantwortung entlassen. Die Feiern zum 9. Mai (wegen der Zeitverschiebung war es in Moskau bereits der 9. Mai, als die bedingungslose Kapitulation in Berlin unterzeichnet wurde) nahmen in den kommenden Jahrzehnten an Größe und Wichtigkeit zu. Sie sollten ablenken und Trost spenden in wirtschaftlich schlechten Zeiten. Unter Generalsekretär Leonid Breschnew wurde 1965 der „Tag des Sieges“ zum landesweiten Feiertag erklärt. In den folgenden Jahren entstanden im ganzen Land viele kleine und mehrere monumentale Denkmäler wie die „Mutter Heimat“ in Wolgograd in Erinnerung an den Krieg. Und bis heute halten Schüler*innen – in der Regel die mit den besten Noten – dort Ehrenwache.
In Moskau wurde 1995 eine große Gedenkanlage eröffnet: das „Zentralmuseum des Großen Vaterländischen Krieges“ im „Siegespark“. Im Jahr 2020, anlässlich des 75. Jahrestages des Kriegsendes, fand in der Hauptstadt die größte Militärparade der Geschichte des Landes statt.

Das Museum des Sieges in Moskau mit dem Obelisken davor (2018). Fotografin: Ruth Preusse

„Unsterbliches Regiment“

Wie lebendig die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg bis heute ist, zeigt auch die Aktion „Unsterbliches Regiment“, die am 9. Mai 2007 in Tjumen ihren Anfang nahm: Angehörige trugen bei diesem Gedenkmarsch Fotografien ihrer Verwandten, die im Krieg gewesen waren, durch die Straßen und feierten sie. In den darauffolgenden Jahren nahmen immer mehr Städte in Russland an dieser Aktion teil. 2015, zum 70. Jahrestag des Sieges, war in Moskau auch Staatschef Wladimir Putin mit einem Foto seines Vaters dabei. Und sogar in anderen Ländern – neben den Nachfolgestaaten der Sowjetunion – „marschierte“ das „Unsterbliche Regiment“, darunter in Deutschland, Israel, den USA, Norwegen und Irland. 2020 musste die Aktion wegen der Corona-Pandemie virtuell stattfinden.

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Handyvideo vom Marsch des „Unsterblichen Regiments“ 2016 in Kasan

Das Video wurde von Rodion D. aufgenommen. Zu sehen ist unter anderem sein Sohn, Savelii D., mit dem Foto des Großvaters.

Die Gedenkkultur ist vielfältiger geworden. Heute ist es möglich, nicht nur über Helden, sondern auch über Opfer zu sprechen. Im ganzen Land entstehen immer noch neue Denkmäler, oft lokal initiiert, die an die Verbrechen aus dieser Zeit erinnern. Auch Kriegsgefangenschaft wird thematisiert.
Im Jahr 2019 entstand in deutsch-russischer Zusammenarbeit eine russischsprachige Wanderausstellung zu sowjetischen Kriegsgefangenen aus dem Gebiet Perm, die in Lagern in Niedersachsen starben: „Erinnerungsbrücke. Rückkehr nach Hause“.
Das Interesse an ihren Geschichten kommt für viele Überlebende der deutschen Stalags zu spät. 70 Jahre nach Kriegsende sind die meisten bereits verstorben…



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