Gefangenschaft
Gefangenschaft. Ein kurzes Wort, das die Tragödie von Millionen einschließt.
Fjodor Iwanowitsch Tschernjak an KONTAKTE-KOHTAKTbI am 3. Februar 2006
Nach den Genfer Konventionen muss eine kriegsführende Partei gegnerische Soldat*innen genauso versorgen wie die eigenen Soldat*innen und sie respektvoll behandeln. Im besten Fall bedeutet Kriegsgefangenschaft also eine Auszeit vom Krieg, die zwar fern der Heimat verbracht werden muss, dafür aber in Sicherheit.
Aus ideologischen Gründen fanden diese internationalen völkerrechtlichen Bestimmungen bei den sowjetischen Kriegsgefangenen im Zweiten Weltkrieg keine Anwendung. Während sich die Wehrmacht im Fall der westlichen Nationalitäten weitgehend korrekt verhielt (sie konnten sogar kulturelle Veranstaltungen oder Sportturniere durchführen), wurden Rotarmist*innen nicht ausreichend ernährt, untergebracht und medizinisch versorgt. Ihre Arbeitsbedingungen waren härter, sie konnten keine Post versenden oder bekommen und ihre Lager wurden nicht von Hilfsorganisationen kontrolliert. Zum Vergleich: Die Sterberate der britischen und US-amerikanischen Soldaten in deutscher Gefangenschaft lag bei 3,5 %, die von sowjetischen Soldaten bei 57,5 %.
Nach dem Krieg verteidigten sich die angeklagten Wehrmachtsangehörigen vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg: Man sei auf die große Zahl von Menschen nicht vorbereitet gewesen und habe sie deshalb nur unzureichend versorgen können. Tatsächlich ist bewiesen, dass die nationalsozialistische Führung und die Wehrmacht einen „Vernichtungskrieg“ führen wollten und die Zuteilung von Lebensmitteln wissentlich völlig unzureichend war. Dass unter diesen Bedingungen Menschen sterben – insgesamt waren es 3,3 Millionen Rotarmist*innen – musste allen klar gewesen sein.
Hungerrationen
Es sind konkrete Rationen bekannt, die Kriegsgefangene erhielten. 1941, kurz nach Kriegsbeginn, wurden die Kriegsgefangenen beispielsweise von der Front aus auf tagelange Märsche Richtung Westen geschickt. Sie erhielten täglich 20 g Hirse und 100 g Brot oder zwei Kartoffeln. In den Stalags im Reichsgebiet änderte sich an dieser Situation wenig. Man sieht auf Fotografien, dass in den sogenannten „Russenlagern“ die Bäume kahl und ohne Rinde sind: Die Gefangenen hatten sie in ihrer Not gegessen. In den Erzählungen von Überlebenden wird auch die „Balanda“ immer wieder erwähnt: eine Wassersuppe, meist mit Rüben oder Kohl, die es in der Regel täglich gab. Oft war das Gemüse vor dem Kochen nicht gesäubert worden oder bereits faulig. Es gab auch keine Kochausstattung, Geschirr oder Besteck. Wer kein Kochgeschirr mehr hatte, musste sich die Suppe in die Mütze oder die Hände schütten lassen, um überhaupt etwas zu bekommen.
Schon im ersten halben Jahr starben von den 3,35 Millionen bis dahin gefangen genommenen Rotarmist*innen etwa 2 Millionen an Hunger, im Winter 1941/42 dann auch an Seuchen, die durch die Unterernährung begünstigt wurden. Der Generalquartiermeister des Heeres, General Eduard Wagner, sagte zu Offizieren bei einer Besprechung an der Ostfront am 13. November 1941:
„Nichtarbeitende Kriegsgefangene in den Gefangenenlagern haben zu verhungern. Arbeitende Kriegsgefangene können im Einzelfall auch aus Heeresbeständen ernährt werden. Generell kann auch das angesichts der allgemeinen Ernährungslage leider nicht befohlen werden.“
Fluchten
Natürlich versuchten Gefangene immer wieder, mit Hilfe von Widerstandsorganisationen oder auf eigene Faust aus der Gefangenschaft zu fliehen. Im Deutschen Reich waren die Erfolgsaussichten dafür sehr viel schlechter als in den besetzten Gebieten. Sergej Litwin zum Beispiel arbeitete in einem kleinen Dorf in der Landwirtschaft, die kriegsgefangenen Arbeiter wurden nachts nur von drei Dorfbewohnern bewacht. Zusammen mit einigen Kameraden wagte er daher die Flucht, doch sie kamen nicht weit: Sie waren von der deutschen Bevölkerung natürlich als Flüchtige zu erkennen, und nur die allerwenigsten Deutschen waren bereit, zu helfen. Zudem versprach das Regime Belohnungen für Hinweise auf Geflohene…
Wenn Überlebende in Zeitzeugengesprächen, Interviews oder auch in den Briefen, die der Verein KONTAKTE-KOHTAKTbI erhielt, über Begegnungen mit der deutschen Bevölkerung berichten, werden häufig auch „gute Deutsche“ erwähnt. Dimitri Stratievski hat in seinem Buch solche Berichte näher untersucht. Er stellt fest, dass schon die kleinste Hilfestellung von Deutschen erinnert und besonders betont wird – der Glaube daran, dass nicht alle Mörder und Verbrecher sind, war für die Gefangenen auch aus psychologischen Gründen überlebenswichtig. Häufig bestanden diese Hilfeleistungen daraus, dass Gefangenen heimlich Essbares zugesteckt oder an einem bestimmten Platz hinterlegt wurde. Ein Überlebender, Pjotr T., meinte sogar, ein „menschliches Gesicht“ in einem Wachsoldaten entdeckt zu haben, weil der erlaubte, dass die Gefangenen Baumrinde aßen. Deutsche mussten also nicht viel tun, um bei einigen sowjetischen Kriegsgefangenen positiv in Erinnerung zu bleiben.
Was Wladimid Iwanowitsch Margewskij an den Verein KONTAKTE-KOHTAKTbI schrieb, bleibt dabei genauso gültig:
Ich werde hier nicht alle Demütigungen erwähnen. Das tut immer noch weh. Mein Herz fängt mir an zu bluten, wenn ich an jene schreckliche Zeit zurückdenke. Ich wundere mich selber darüber, dass ich das Ganze überlebt habe und immer noch lebe.
Wladimid Iwanowitsch Margewskij an den Verein KONTAKTE-KOHTAKTbI am 19. Februar 2006