Michail Petrowitsch Botschkarjow
„Die russischen Soldaten waren geachtet, und die anderen Nationen, die in Buchenwald waren, nahmen vor uns sogar die Mützen ab.“
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4. Nov 1921 geboren in Nagornaja Peletma (Gebiet Pensa, Russland)
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Schulbesuch in Lomowka
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1937 Ausbildung an der Eisenbahnfachschule in Pensa
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Aug 1941 Abschluss mit Diplom, Schnellehrgang an der Artilleriefachschule, Abschluss nach zwei Monaten als Leutnant
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Dez 1941 Südwestfront, 38. Armee, 658. Schützenregiment
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14. Juli 1942 Einkesselung, Verwundung und Gefangennahme bei Kamenskaja
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Juli 1942 Sammellager in Lissitschansk
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September 1942 Verlegung ins Jekaterinen-Gefängnis in Dnjepropetrowsk, Aufenthalt etwa eine Woche
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Herbst 1942 Transport nach Deutschland ins Stalag VI K (326) Senne, Folter
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26. Aug 1943 Überführung ins KZ Buchenwald, Zwangsarbeit
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Aug 1944 Zwangsarbeit im KZ Mittelbau-Dora
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Frühjahr 1945 Flucht vom Räumungstransport, Befreiung durch die Amerikaner bei Bad Sulza
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Sommer 1945 Übergabe an die sowjetischen Truppen, arbeit an der Bahnlinie in Bautzen
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Okt 1945 Rückkehr in die Sowjetunion, Filtration in Murom
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März 1946 Lehrer an der Eisenbahnfachschule in Pensa
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8. Mai 1946 Heirat
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1982 Rentenbeginn
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29. Juli 2005 Lebensgeschichtliches Interview mit Memorial International
Lebensstationen
Berufswunsch: Lokomotivführer
Michail Botschkarjow ist das jüngste von sieben Kindern. Er wächst in dem Dorf Nagornaja Peletma auf, sein Vater betreibt die dortige Mühle. Die Mittelschule ist in Lomowka und für damalige Verkehrsverhältnisse so weit entfernt, dass er unter der Woche dort wohnt. Sein Traum ist es, bei der Eisenbahn zu arbeiten. Nach dem Schulabschluss besucht Michail die Eisenbahnfachschule in Pensa, die er 1941 mit Diplom abschließt. Und er lernt seine zukünftige Frau kennen. Der Krieg bricht aus, und da es bei der Bahn gerade keine Arbeit für Lokführer oder Lokführergehilfen gibt, meldet er sich beim Militärkommissariat.
In nur zweieinhalb Monaten absolviert er eine Ausbildung in der Artillerie und geht als Leutnant (das ist der niedrigste Offiziersrang) an die Südwestfront. Innerhalb der Regimentsbatterie wird er Kommandeur eines Führungszugs. In den folgenden Monaten lernt er, was Krieg bedeutet.
Im Sommer des darauffolgenden Jahres soll das Regiment umgegliedert werden. Im Zuge dessen geraten die Rotarmist*innen in einen Luftangriff der deutschen Wehrmacht und werden in der Nähe des heutigen Kamensk-Schachtinski eingekesselt. Sie zerstören ihre Geschütze, damit die nicht dem Feind in die Hände fallen. Die Menschen selbst sind chancenlos ausgeliefert.
Verwundet in Gefangenschaft
Bei einem Schusswechsel mit den Deutschen wird Michail an Bein und Kopf verletzt und fällt in Ohnmacht. Als er erwacht, liegt er auf einem Karren, inmitten von Verletzten: Sie sind gefangen genommen worden!
Die Kriegsgefangenen sollen nun zu Fuß in das 15 km entfernte provisorische Stalag Lissitschansk gehen – wer nicht laufen kann, wird erschossen. Michail schafft diesen Weg trotz seiner Verletzung, weil seine Kameraden ihn stützen.
Dort angekommen, werden die Männer nicht versorgt, es gibt keine Unterkünfte oder Waschhäuser, nur den Fluss Donez. Unter den Verbänden sammeln sich Läuse.
Michail hat für die nun kommenden Ereignisse in seinem Leben das Zeitgefühl verloren. Wie lange war er in Lissitschansk? Er weiß es nicht genau. Von dort wird er irgendwann ins Jekaterinengefängnis in Dnjepropetrowsk gebracht, wo er etwa eine Woche verbringt. Dann geht es mit einem Transport nach Deutschland. Er wird ins Stalag 326 (VI K) in Stukenbrock-Senne eingeliefert.
Kriegsgefangenschaft und Lebensgefahr
Michail Botschkarjow über seine Haftstationen Lissitschansk, Stalag 326 Senne und KZ Buchenwald © Memorial International Moskau (2005)
Dort werden die Offiziere verhört. Sie sollen militärische Geheimnisse verraten, zum Beispiel, wie es um die sowjetische Rüstungsproduktion steht. Auch Michail Botschkarjow wird befragt. Doch er weiß um seine Rechte und weigert sich. Dafür wird er verprügelt, bis er das Bewusstsein verliert. Die Offiziere werden nach dieser Aktion gesondert untergebracht und schließlich in den Zuständigkeitsbereich der SS ins KZ Buchenwald überstellt. Laut Häftlings-Personal-Karte kommt er dort am 26. August 1943 an und bekommt die Nummer 118.603. Die sowjetischen Kriegsgefangenen erhalten keine Häftlingskleidung, sondern tragen weiter ihre Uniformen. Und das hat einen Effekt, auch auf die Mitgefangenen.
Gezielte Ermordung
Bei der Ankunft werden zwei Männer aus Michails Transport herausgeholt und weggebracht. Er sieht sie nicht wieder. Ihm ist nicht klar, was mit ihnen passiert ist, aber er ahnt Schlimmes. Bald bemerkt er, dass aus einem Gebäude in der Nähe, dem ehemaligen Pferdestall, immer wieder laute Musik zu hören ist. Erst nach der Befreiung erfährt er, was es mit diesem „Bösen Häuschen“ auf sich hatte – dass nämlich seine Kameraden dort mit einer als Messlatte getarnten Genickschussanlage ermordet wurden. Über 8.000 sowjetische Kriegsgefangene sind auf diese Weise vom sogenannten Kommando 99 hingerichtet worden.
Das „Böse Häuschen“ im KZ Buchenwald
Im KZ Buchenwald gibt es eine getarnte Genickschussanlage. Während der Mordaktionen läuft laute Musik, erzählt Michail Botschkarjow. © Memorial International Moskau (2005)
Michail Botschkarjow muss im KZ Buchenwald Zwangsarbeit verrichten. Die sowjetischen Gefangenen, erzählt er später, werden zu schwersten Arbeiten eingesetzt: Im Steinbruch, in verschiedenen Bau-Kommandos, zu Erdarbeiten – und das alles bei schlechter Versorgung. Doch es formiert sich Widerstand: Michail lernt Mithäftlinge kennen, die einer Untergrundorganisation angehörigen. Sie planen Fluchten und schmuggeln dafür verbotene Gegenstände ins Lager, zum Beispiel, um Stacheldraht durchschneiden zu können.
Der Kriegsverlauf ist eigentlich ein Grund zur Freude, weil die Deutschen an allen Fronten zurückgedrängt werden. Aber er wird für die Häftlinge zunehmend gefährlich: Mehrfach erlebt Michail Luftangriffe der Amerikaner, einmal wäre er dabei fast gestorben. Nach der Bombardierung und Zerstörung der Fabrik, in der er arbeitet, werden er und andere in das KZ Mittelbau-Dora verlegt. Dort wird unterirdisch für die Rüstung produziert, Raketen, Flugzeuge und Treibstoffe. Mehr als 60.000 Menschen leisten hier zwischen 1943 und 1945 Zwangsarbeit, jeder dritte stirbt.
Michails Ankunft dort ist verstörend:
Grausame Arbeit im KZ-Mittelbau-Dora
Als Michail Botschkarjow mit einer Gruppe sowjetischer Kriegsgefangener ins KZ Mittelbau-Dora kommt, sind die Baracken voller Leichen. Ihre erste Aufgabe besteht darin, sie in Massengräber zu stapeln und zu verbrennen. © Memorial International Moskau (2005)
Anfang April 1945 werden die Häftlinge aus Mittelbau-Dora zurück ins KZ Buchenwald getrieben. Auf dem Weg gelingt Michail Botschkarjow zusammen mit anderen die Flucht, doch sie werden schon einen Tag später aufgegriffen und müssen in einer Kolonne nach Westen marschieren – ein sogenannter Todesmarsch. Unterwegs treffen die völlig entkräfteten Männer auf amerikanische Panzer: sie sind frei!
Die Amerikaner bringen sie zunächst nach Meißen, dann nach Bautzen, wo sie den sowjetischen Truppen übergeben werden. Im Oktober kann Michail mit einem Truppentransport zurück nach Hause fahren. Vorher muss er in Murom in ein Filtrationslager. Im Dezember kehrt er nach Pensa zurück.
Dort findet Michail Botschkarjow zunächst keine Arbeit. Er will nun endlich Lokführer werden, doch weil er in Deutschland in Kriegsgefangenschaft war, will man ihn nicht anstellen. Ein ehemaliger Mitschüler von der Berufsfachschule vermittelt ihm schließlich eine Stelle als Lehrer in der Eisenbahnfachschule in Pensa. Dort arbeitet er in den kommenden 36 Jahren.
Am ersten Jahrestag des Kriegsende, am 8. Mai 1946, heiratet er seine Freundin. Sie bekommen einen Sohn.
Auf dem Gelände des ehemaligen KZ Mittelbau-Dora befindet sich heute eine Gedenkstätte. Die Mitarbeiter*innen haben diese Fotos zusammengestellt:
Eingang in die Besucherstollenanlage. Foto: Claus Bach Teil der historischen Stollenanlage. Querstollen Nr. 45, bis 1944 Häftlingsunterkunft. Foto: Claus Bach Blick über den ehemaligen Appellplatz. In den 1970er-Jahren umgestaltet zum „Ehrenplatz der Nationen“. Foto: Claus Bach Das Museumsgebäude der Gedenkstätte von 2005. Foto: Claus Bach
Wie wird in Pensa an den Krieg erinnert?
Während des Zweiten Weltkriegs wurden ca. 50 Fabriken aus den westlichen sowjetischen Gebieten nach Pensa verlegt, um sie vor den Deutschen zu schützen. Die Stadt wurde so zu einem industriellen Zentrum. Angeblich sind 25% aller sowjetischen Minen, Fliegerbomben und Artilleriegranaten in Pensa hergestellt worden. So erklärt sich der Name des Denkmals, dass zur Erinnerung an den Krieg in Pensa aufgestellt wurde: es heißt „Denkmal für Militär- und Arbeitsruhm“ und entstand zwischen 1970 und 1975. Seit dem Jahr 2000 steht daneben eine orthodoxe Kapelle.
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Das „Denkmal für Militär- und Arbeitsruhm“ wurde 1975 errichtet. Foto: Wladimir und Sergej Roschnew