Jüdische Rotarmist*innen

Im Juni 1941 erließ die Wehrmacht einen völkerrechtswidrigen Befehl für den Krieg gegen die Sowjetunion: „Untragbare“ sowjetische Kriegsgefangene sollten unmittelbar nach der Gefangennahme ermordet werden. Als „untragbar“ galten vor allem politische Kommissare sowie Juden. Gezielte Tötungen von Kriegsgefangenen verstießen gegen geltendes Recht, das war allen Beteiligten klar. Aber bei den meisten Entscheidungsträgern überwog offenbar die ideologische Motivation für diesen Krieg: Eine wissenschaftliche Untersuchung hat gezeigt, dass bei etwa 60% der dort eingesetzten Divisionen die Morde nachweislich durchgeführt wurden.

Heydrichs Einsatzbefehle

Reinhard Heydrich, Chef der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes der SS, beschrieb am 17. Juli 1941 in einem Einsatzbefehl das Vorgehen der Gestapo-Kommandos in den Kriegsgefangenenlagern in den besetzten Gebieten: Die Rotarmist*innen sollten nach verschiedenen Kategorien voneinander getrennt und befragt werden, wobei auch V-Leute der Wehrmacht zu nutzen seien: „Vor allem gilt es ausfindig zu machen: alle bedeutenden Funktionäre des Staates und der Partei […], die sowjetrussischen Intelligenzler, alle Juden, alle Personen, die als Aufwiegler oder fanatische Kommunisten festgestellt werden.“ Und er setzte hinzu: „Die Exekutionen dürfen nicht im Lager selbst, noch in unmittelbarer Nähe erfolgen; sie sind nicht öffentlich und müssen möglichst unauffällig durchgeführt werden.“

August 1941: Gefangener Rotarmist mit Judenstern. © Bundesarchiv, Bild 101I-267-0111-36A, Fotograf: Friedrich

Zwei weitere Einsatzbefehle (Nr. 8 und 9) Reinhard Heydrichs ermöglichten es, diese Personengruppen auch im Reichsgebiet unter den Gefangenen zu ermitteln und zu ermorden. Am 12. September 1941 verschickte Reinhard Heydrich „Richtlinien“ für die Gestapo-Kommandos, die in den Stalags und Dulags (Durchgangslagern) für die „Aussonderungen“ zuständig waren. Darin gab er auch den Hinweis: „Zu beachten ist, daß insbesondere die Turkvölker oftmals ein durchaus jüdisches Aussehen haben und daß die Beschneidung allein noch nicht ohne weiteres den Beweis einer jüdischen Abstammung darstellt (z.B. Mohammedaner).“

Ständige Lebensgefahr

Die unmittelbare Ermordung der nach der „Aussonderung“ in die Konzentrationslager überstellten sowjetischen Kriegsgefangenen endete im Sommer 1942. Die Einsatzbefehle galten aber bis Kriegsende weiter. Mindestens 33.000 Gefangene wurden bis Kriegsende als Strafmaßnahme nach Fluchtversuchen, tatsächlicher oder vermeintlicher Sabotage, wegen Entdeckung ihrer jüdischen Herkunft, als Mitglieder der Kommunistischen Partei oder von Widerstandsorganisationen durch die Kommandanten der Stalags aus der Kriegsgefangenschaft entlassen und der Gestapo übergeben, was mit der Einweisung in ein Konzentrationslager verbunden war.  
Jüdische Rotarmist*innen, die bei ihrer Gefangennahme nicht als solche entdeckt worden waren, befanden sich also weiterhin in Lebensgefahr. Und das war ihnen auch tagtäglich bewusst, wie Igor Gurjewitsch in seinem Zeitzeugeninterview berichtet. Ihm gelang es schon bei der Gefangennahme, sich mit einer neuen Identität zu tarnen. Dawid Dodin wurde von seinen Kameraden nicht verraten und hatte das Glück, bei der Befragung durch die Gestapo in Zeithain den Beamten erfolgreich ablenken zu können. Zudem schützte ihn eine Gruppe von Wehrmachtssoldaten, die im Kriegsgefangenenlager ihren Dienst versahen, obwohl sie wussten, dass er Jude war. Er war ihnen als Funktionsgefangener zugewiesen worden. 


weiterlesen