Iwan Andrejewitsch Gusew
„Warum tragen mich nicht wenigstens die Gedanken in die Welt der Schönheit und Zufriedenheit, in die Welt der Liebe, des Glücks, zu der Freundin, deren Namen meine Lippen unaufhörlich flüstern.“
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7. Nov 1914 geboren in Pupkowo, Kimrskij Raion (Russland)
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Schule und Jura-Studium
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arbeitet als Rechtsanwalt
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Heirat mit Feodosia
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2. Juli 1941 Mobilisierung in Mogiljow (Belarus)
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15. April 1942 Verwundung und Gefangennahme bei Wjasma, Dulag 184
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15. Mai 1942 Straflager
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Aug 1942 Offizierslager Kalvaria
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1. Okt 1942 Stalag IX A Ziegenhain, Holzschuhmacher in der Schuhwerkstatt des Stalag
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30. März 1945 Befreiung
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Nov 1945 Demobilisierung, Berufsverbot als Rechtsanwalt
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Fabrikarbeiter
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1994 Anerkennung der Kriegsinvalidität, Wiederanerkennung des Offiziersgrades
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1995 Interview für den Dokumentarfilm „Trutzhain – Erinnerungen an ein Kriegsgefangenenlager“
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2005 Tod
Lebensstationen
Ein erfolgreiches Leben
Iwan Gusew kommt zwei Monate nach Beginn des Ersten Weltkriegs in dem russischen Dorf Pupkowo zur Welt. Über seine Familie und die Kindheit ist leider wenig bekannt: Ob er Geschwister hat? Was machen seine Eltern wohl beruflich?
Er selbst ist aller Wahrscheinlichkeit nach ein guter Schüler und interessiert sich sehr für Literatur, vermutlich beginnt er schon als Jugendlicher, Gedichte zu schreiben. Nach seinem Schulabschluss studiert er Jura, arbeitet anschließend als Rechtsanwalt. Und er heiratet seine große Liebe: Feodosia.
Bis hierher klingt alles nach einem glücklichen und erfolgreichen Leben. Doch das Deutsche Reich überfällt am 22. Juni 1941 die Sowjetunion. Auf einmal herrscht Krieg. Nur 10 Tage später wird auch der jetzt 27-jährige Iwan Gusew eingezogen.
Zu diesem Zeitpunkt befindet er sich in Mogiljow im heutigen Belarus. Ein dreiviertel Jahr später wird er verwundet und gerät bei Wjasma, etwa 400 km weiter östlich, in deutsche Kriegsgefangenschaft. Er durchläuft als Offizier mindestens zwei Lager in den besetzten Gebieten, darunter das Oflag (Offizierslager) in Kalvaria, das zum Frontstalag 336 in Kowno gehört. Vermutlich von dort wird er ins hessische Ziegenhain transportiert, wo er am 1. Oktober 1942 unter der Gefangenennummer 74760 registriert wird.
Die Lebensbedingungen in diesem international belegten Stalag sind für sowjetische Kriegsgefangene dramatisch schlecht: sie werden eng zusammengepfercht untergebracht, erhalten wenig und schlechtes Essen, die Baracken werden nicht richtig beheizt, es gibt keine medizinische Versorgung, der Kontakt zur Außenwelt ist verboten. Über Jahre – denn Iwan Gusew bleibt hier bis zur Befreiung Ende März 1945 – kann er seiner Frau keine Nachricht über seinen Verbleib zukommen lassen…
Er wird zur Arbeit in der Schuhwerkstatt des Lagers eingeteilt. In einem Zeitzeugeninterview, das die Gedenkstätte Trutzhain mit ihm 2001 geführt hat, erzählt er von seinen Aufgaben und wie er sich Extra-Rationen Essen „verdienen“ konnte.
Iwan Gusew über die Arbeit in der Schuhwerkstatt unter Aufsicht der eigenen Leute
Ausschnitt aus dem Dokumentarfilm „Trutzhain – Erinnerungen an ein Kriegsgefangenenlager“ 2003 © Gedenkstätte und Museum Trutzhain
„Drei Jahre der Schande und des Schreckens“
Iwan Gusew führt in dieser Zeit Tagebuch. Irgendwie schafft er es, Schreibutensilien und ein kleines Heftchen bei sich zu verstecken. Diese Aufzeichnungen, die – wenn auch unvollständig – die Zeit überdauert haben, sind heute ein eindrückliches Zeugnis seines seelischen Zustandes in der Gefangenschaft. Die erhaltenen Einträge gehen vom 25. Oktober 1944 bis zum 25. März 1945. Es geht um die Lebensbedingungen, die ihn abstumpfen, den Hunger, die Kälte, um Lyrik und Romane, aber vor allem immer wieder um seine Frau, die er (nach Shakespeare) „Ophelia“ oder Fee nennt. Am 28. Oktober 1944 schreibt er:
Deine Gestalt, geliebte Ophelia, entrinnt mir immer mehr. Schon drei Jahre sind verflossen, die mich von dir trennen. Tausende Kilometer Feindesland, Land des Schreckens, liegen zwischen uns. Und nur der Gedanke, den die fremde Gewalt nicht unterwerfen kann, bringt mich allen Hindernissen zum Trotz zu dir – der Königin meiner Gedanken. Denk an mich, in dieser Minute, Geliebte! Gerne wüsste ich, ob du meine Sehnsucht spürst – die Schmerzen meines nicht erloschenen Herzens!
„Hunger und Kälte“ – Iwan Gusew über die Lebensbedingungen in Ziegenhain und sein Tagebuch
Ausschnitt aus dem Dokumentarfilm „Trutzhain – Erinnerungen an ein Kriegsgefangenenlager“ 2003 © Gedenkstätte und Museum Trutzhain
Am 30. März wird Ziegenhain von amerikanischen Soldaten befreit. Endlich kann Iwan Gusew zurück zu seiner Frau. Vorher wird er allerdings, wie alle Rückkehrer, in einem Filtrationslager überprüft. Weil er seine Verwundung bei der Gefangennahme beweisen kann, glauben ihm die Männer vom Geheimdienst, dass er nicht übergelaufen ist oder sich verbotenerweise ergeben hat. Dennoch erhält er Berufsverbot als Anwalt. Im November 1945 wird er aus der Armee entlassen.
Was bleibt, sind körperliche Probleme. Die rechte Hand ist irreparabel verletzt, bis zu seinem Lebensende kann er nicht mehr schreiben. Dazu erholt er sich nicht vollständig von einer Tuberkulose. Dennoch wird er wegen der Kriegsgefangenschaft zunächst nicht als Kriegsinvalide anerkannt. Das geschieht erst nach der allgemeinen Amnestie durch Boris Jelzin 1995.
In seinen letzten Lebensjahren berichtet er für ein deutsches Publikum von seinen Erfahrungen in der Kriegsgefangenschaft und erlaubt auch, dass sein Tagebuch in der Gedenkstätte genutzt werden darf. Ihm ist es wichtig, dass junge Leute dieses Zeugnis kennen. In seinen Aufzeichnungen heißt es zum Akt des Schreibens selbst:
Überall, wohin man schaut, gibt es das Gefängnis und die Schande, als ob unsere Lagerzone nur Verleumdung, unverschämte Verspottung kennt. Warum, wozu ich schreibe – es ist ein Akt gegen unsere Verhöhnung.
Iwan Gusew: Tagebuch, Eintrag vom 4. November 1944 (Veröffentlichung der Gedenkstätte und Museum Trutzhain)