Israil (Igor) Isaakowitsch Gurjewitsch

„Und ich habe wie durch ein Wunder überlebt. Warum? Ich hatte in der Schule Deutsch gelernt.“

  • 7. Dez 1921 geboren in Pensa (Russland)

  • 1939 Schulabschluss und Aufnahme am Staatlichen Institut für Theaterkunst in Moskau

  • Sep 1939 Rückkehr nach Pensa wegen bevorstehender Einberufung

  • Okt 1939 arbeitet am Theater Pensa

  • Feb 1940 Armeedienst bei Kiew

  • Sommer 1940 Armeedienst in Bessarabien

  • Juni 1941 Leiter einer Geheimabteilung beim Stab eines Artillerieregiments

  • 25. Juni 1941 Erste Kämpfe gegen die deutsche Wehrmacht bei Kremenez

  • 7. Juli 1941 Verwundung und Gefangennahme

  • Juli – Sep 1941 in verschiedenen Front-Stalags unter freiem Himmel

  • 1. Okt 1941 Stalag VIII F (318) Lamsdorf, Registrierung als Kriegsgefangener

  • 16. Okt 1941 in einem Transport mit 2.500 Kriegsgefangenen ins KZ Groß-Rosen

  • Jan 1945 Räumung des KZ Groß-Rosen, Transport ins Außenlager Reichenau

  • 10. Feb 1945 Überstellung ins KZ Leitmeritz (Außenlager des KZ Flossenbürg), erhält eine Haftnummer

  • 8. Mai 1945 Befreiung

  • Mai 1945 wieder im Dienst der Roten Armee, bald Aufnahme im Gesangs- und Tanzensemble

  • Sep 1945 Verhaftung wegen Vaterlandsverrats

  • 10. Dez 1945 Verurteilung in Dresden zu 15 Jahren Strafarbeit

  • 1946 Überführung ins Arbeitslager in Workuta, Arbeit in der Kantine, dann im Bergwerk

  • Mai 1956 vorzeitige Entlassung, wohnt in Leningrad und Moskau bei seinen Geschwistern

  • Juli 1956 Rückkehr nach Pensa

  • Okt 1957 Arbeit als Normer im Möbelkombinat

  • 1958 Beginn eines Studiums an der Bauhochschule

  • 1960 Arbeit beim Wohnungsbaukombinat

  • 1962 verliert Arbeit, Studienplatz und Wohnung aufgrund seiner Vergangenheit als Kriegsgefangener

  • 21. Jan 1963 Rehabilitierung, Wiederaufnahme des Studiums und der Arbeit

  • 1964 Studienabschluss mit Auszeichnung

  • 1965 Leiter der technischen Abteilung des Kombinats für Sanitärtechnik

  • 1984 Leiter der Vertrags- und Finanzabteilung im Kombinat für Sanitärtechnik

  • 1994 besucht mit seiner Frau und einem befreundeten Paar die KZ-Gedenkstätte Groß-Rosen

  • 2005 Zeitzeugeninterview mit Memorial

Lebensstationen

Moskau *Pensa Kremenez Łambinowice Groß-Rosen Reichenau Leitmeritz Dresden Workuta St. Petersburg

Der Glücksname

Israil Gurjewitsch wird am 7. Dezember 1921 in Pensa geboren. Igor Gurow kommt angeblich am 7. Dezember 1921 in Moskau zur Welt. In Wirklichkeit gibt es ihn gar nicht: Israil hat Igor erfunden, um vor den Deutschen seine jüdische Herkunft zu tarnen. Und das hat funktioniert. Entgegen jeder Wahrscheinlichkeit hat Israil die Gefangenschaft in verschiedenen deutschen Stalags und KZs überlebt. Daher bleibt er nach dem Krieg bei diesem „Glücksnamen“: Er nennt sich Igor, Israil steht nur noch in seinem Pass.
Israil will Schauspieler werden. Und nach der Schule wird er tatsächlich an einer Schauspielschule in Moskau angenommen. Doch schon nach kurzer Zeit muss er in seine Heimatstadt Pensa zurückkehren, weil die Einberufung bevorsteht. Er arbeitet noch vier Monate lang am Städtischen Schauspielhaus, dann geht es in die Armee: Im Frühjahr 1940 wird er in Radomyschl in der Nähe von Kiew stationiert, danach in Bessarabien, heute Moldawien. Israil macht eine kleine Karriere: Im Sommer 1941, kurz vor dem Überfall der deutschen Wehrmacht, leitet er eine Geheimabteilung beim Stab seiner Artillerieeinheit.

Der Krieg mit dem Deutschen Reich beginnt am 22. Juni 1941. Schon drei Tage später hat Israil den ersten „Feindkontakt“ bei Kremenez im Gebiet Ternopol. Sein Kindheitsfreund, Aleksandr Wassiljew, genannt Saschenka, kämpft durch einen glücklichen Zufall in der gleichen Einheit. Keine zwei Wochen später werden sie eingekesselt. Beim Versuch, auszubrechen, wird Igor an beiden Beinen verwundet. Die Deutschen nehmen ihn gefangen. Er gibt als Name Igor an und ändert den Geburtsort von Pensa in Moskau. Keiner seiner Kameraden verrät, dass er Jude ist.

Der Überfall der Deutschen auf die Sowjetunion führt in der ersten Zeit zu großen Kriegsgefangenenzahlen. Die Wehrmacht zäunt die Gefangenen einfach auf offenen Feldern ein – ohne Unterkünfte. Auf diesem Foto ist ein nicht näher bezeichnetes Lager an der Südost-Front zu sehen. © Bundesarchiv, Bild 183-B21845 / Fotograf(in): Wahner

Igor – wie er von jetzt an heißt – wird in den kommenden Monaten häufig verlegt, von einem provisorischen Lager unter freiem Himmel zum anderen: Von Jampol nach Lemberg, von Lemberg nach Przemyśl, von Przemyśl ins polnische Jarosław und von dort ins schlesische Stalag VIII F (318) Lamsdorf. Erst hier wird er am 1. Oktober 1941 offiziell als Kriegsgefangener registriert und erhält die Nummer 4266/13. Das Stalag gehört zu den größten der Wehrmacht, hunderttausende Gefangene werden es bis 1945 durchlaufen, an 42.000 Tote wird dort heute mit einem Monument erinnert. Igor verbringt hier nur gute zwei Wochen. Am 16. Oktober 1941 wird er einem Transport von 2.500 Mann zugeordnet, die ins KZ Groß-Rosen gebracht werden.

Das Denkmal auf dem Friedhof der sowjetischen Kriegsgefangenen erinnert an die 42.000 Toten des Stalag in Lamsdorf. Errichtet wurde es im Jahr 1964. Die Aufnahme ist von 2018. © Centralne Muzeum Jeńców Wojennych
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Als Jude in deutscher Kriegsgefangenschaft

Igor Gurjewitsch erzählt, dass ihm und allen anderen Gefangenen immer klar war, dass Juden ermordet werden. © Memorial International Moskau (2005)

Die 2.500 Männer dieses Transports werden im KZ Groß-Rosen nicht neu registriert, sie behalten ihren Status als Kriegsgefangene und werden gesondert untergebracht. Die SS hat sie als Arbeitssklaven von der Wehrmacht angefordert. Sie werden im Steinbruch eingesetzt und genauso schlecht behandelt wie die KZ-Häftlinge. Der Unterschied ist nur, dass die Toten der Wehrmacht gemeldet werden müssen.
Wie gefährlich es besonders für Juden in deutscher Haft ist, weiß Igor. Die gezielten Tötungen von kriegsgefangenen Juden und politischen Kommissaren finden auch in Groß-Rosen statt. Dass er nicht enttarnt wird, ist wirklich ein Wunder!
Igor erzählt in seinem Zeitzeugeninterview, dass nach vier Monaten von den 2.500 Menschen, mit denen er angekommen ist, nur noch 700 lebten. Und dass er mitbekommen hat, dass die Deutschen Juden ermorden. Seiner Meinung nach waren seine Sprachkenntnisse für das Überleben ausschlaggebend: Er konnte Kontakte knüpfen, Bekanntschaften schließen – und offenbar war er auch sehr mutig, denkt man an die im Interview beschriebene Situation, in der er den Deutschen fragt, ob der ihn für einen Juden hält…

Räumungstransporte

Die harten Lebensbedingungen im KZ Groß-Rosen sind eine zusätzliche Erklärung für die hohe Sterberate: Die Schichten im Steinbruch dauern 12 Stunden und mehr, bei schlechter Ernährung. Igor hat Glück, dass er dank seiner Kontakte nicht dort eingesetzt wird, sondern in der Tischlerei und als Maler und Dolmetscher.
Vermutlich Anfang Februar 1945 wird Igor, dessen Nachname in den deutschen Verwaltungen immer wieder anders vermerkt wird, zunächst ins Außenlager Reichenau verlegt: Das KZ Groß-Rosen wird geräumt. Aus erhalten gebliebenen Unterlagen kann man schließen, dass er am 10. Februar 1945 von Reichenau aus dem KZ Flossenbürg überstellt wird und in dessen Außenlager Leitmeritz eintrifft. Dieses größte Außenlager von Flossenbürg existiert erst seit März 1944, und schon vorher sind Häftlinge aus Groß-Rosen hierher gekommen, um in einer unterirdischen Fabrik unter schwierigsten Bedingungen zu arbeiten.
Dort bekommt Igor Gurow, geboren am 7. Dezember 1921 in Moskau, eine neue Haftnummer: 87329. Vermerkt ist dazu „R. e. Kgf.“, also „Russe“ und „ehemaliger Kriegsgefangener“. Er ist jetzt formal in „politischer Schutzhaft“. In Leitmeritz bleibt er bis Kriegsende. Die Häftlinge werden am 8. Mai 1945 dem tschechischen Roten Kreuz übergeben, die die sowjetischen Überlebenden zu einem Stützpunkt der Roten Armee bringen.

Nummern-Zugangsbuch des KZ Flossenbürg. Der Name Igor Gurow steht links in der Mitte. © KZ-Gedenkstätte Flossenbürg / Signatur: AGFl S.22.56_36 U.S. National Archives, Washington D.C.

Aleksandra Rutkowska und Leander Perz, Freiwilligendienstleistende der Gedenkstätte Terezín, haben 2019 Fotos vom Gelände des ehemaligen KZ Leitmeritz gemacht und erklären, was man dort sehen kann:

Nach Kriegsende bekommt Igor die Chance, endlich wieder auf einer Bühne zu stehen: Er tritt mit dem Gesangs- und Tanzensemble der Roten Armee in verschiedenen Städten auf, um die Kamerad*innen zu unterhalten. Nach einem der Konzerte wird er von einem jungen Mann intensiv über das KZ Groß-Rosen befragt. Es stellt sich heraus, dass auch er dort inhaftiert war. Jetzt arbeitet er für den sowjetischen Geheimdienst. Er denunziert Igor anschließend als Vaterlandsverräter. Igor wird verhaftet und in Dresden vor ein Militärgericht gestellt. Im Prozess soll er zu zehn Jahren Haft verurteilt werden. Als Igor sich zum wiederholten Mal erklären will, seine Unschuld beteuert und beklagt, dass man ihm nicht zuhört, wird die Strafe auf 15 Jahre erhöht.
Bis März 1946 wird er in verschiedenen Gefängnissen in Deutschland und Polen festgehalten, dann wird er mit der Eisenbahn nach Workuta ins Arbeitslager gebracht. Von dort schreibt er nur seiner Mutter Briefe, erzählt er später, weil er seinen Geschwistern durch den Kontakt mit einem Verurteilten keine Probleme machen will. Die Arbeit im Bergwerk von Workuta ist gefährlich. Einmal kommt es zu einer Methangas-Explosion. Fast seine gesamte Brigade stirbt. Igor überlebt.
Später gründet er mit einem Kollegen ein kleines Orchester, sein Drang, auf der Bühne zu stehen, ist immer noch da. Nach Stalins Tod wird er vorzeitig entlassen, 1956 kehrt er über Leningrad (heute St. Petersburg) und Moskau, wo Geschwister von ihm wohnen, nach Pensa zurück.

Verleumdung als „Faschist“

Dort fängt er ein neues Leben an: Er heiratet, beginnt ein Studium als Bauingenieur und findet eine Arbeitsstelle. Doch 1962 holt ihn seine Vergangenheit noch einmal ein. Weil er und seine Frau eine Wohnung zugewiesen bekommen, beschwert sich der Sohn des Vermieters seiner Schwiegereltern beim Parteikomitee, warum „ein Faschist“ eine Wohnung bekommt und er nicht? Diese Beschwerde wird zum Auslöser einer ganzen Reihe von diskriminierenden Maßnahmen: Igor verliert Arbeit, Studienplatz und Wohnung. Nur durch die unablässigen Recherchen seiner Frau, die zu beweisen versucht, dass Igor in deutscher Gefangenschaft nie kollaboriert hat, gelingt es, seine vollständige Rehabilitierung zu erreichen. Sie wird 1963 ausgesprochen. Jetzt kann er sein Studium beenden – und er tut es mit Auszeichnung. Aus dem Traum, Schauspieler zu werden, ist nichts geworden, aber er spielt sein Leben lang in Laientheatergruppen.

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Igor Gurjewitsch wird „Faschist“ genannt, weil er während des Krieges in Deutschland war…

Nur durch die unermüdlichen Recherchen seiner Frau konnte er beweisen, dass er zwischen 1941 und 1945 nicht mit den Deutschen kollaboriert hatte. © Memorial International Moskau (2005)

1994 besucht Igor Gurjewitsch zusammen mit seiner Frau, seinem Freund Saschenka und dessen Frau die Gedenkstätte Groß-Rosen. Das Museum hat diese historischen und aktuellen Fotografien von wichtigen Orten auf dem Gelände zusammengestellt:

Wie wird in Pensa an den Krieg erinnert?

Auch in Pensa gibt es ein Denkmal zur Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg. Ein Foto davon ist in der Biografie von Michail Botschkarjow zu sehen, der ebenfalls aus Pensa kommt. Im Dezember 2015 entstand hier allerdings noch ein weiterer „Gedenkort“, der in diesem Zusammenhang interessant ist: Es gibt ein „Stalinzentrum“. In der Regierungszeit von Wladimir Putin hat sich die Wahrnehmung dieses Staatschefs in der russischen Gesellschaft noch einmal gewandelt. Während Stalin nach seinem Tod als alleine verantwortlich für Millionen Tote durch den Terror gegen die eigene Bevölkerung für schuldig erklärt wurde, wird er heute in weiten Kreisen wieder als „starker Anführer“ gefeiert.
Wladimir und  Sergej  Roschnew, die Gewinner des Schüler*innenwettbewerbs der Menschenrechtsorganisation Memorial International Moskau von 2020, haben das Stalinzentrum für uns fotografiert:


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